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Frau Professor Elise Richter, wie sie sich auch selbst gerne sah.

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Ingrid Brommer und Christine Karner, Historikerinnen: Ein frühes Testament Elises gab den Ausschlag, ein Buch über ihr Leben zu schreiben.

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Wien – Strebt eine Frau eine akademische Karriere in Österreich an, kommt ihr bestimmt irgendwann der Name "Elise Richter" unter. Im Namen dieser ersten in Österreich habilitierten Romanistin und Linguistin vergibt der Forschungsförderungsfonds FWF nämlich Stipendien zur Förderung von Frauen in Forschung und Wissenschaft.

"Wir freuen uns immer, wenn ihr Name in Zusammenhang mit Frauenförderung fällt", schmunzelt Ingrid Brommer. Die Historikerin und ihre Kollegin Christine Karner beschäftigen sich schon so lange mit Elise Richter, dass sie fast schon Teil ihres Lebens ist. Allerdings ergibt sich aus Sicht der Wissenschafterinnen ein anderes Bild, als die stolzen nach ihr benannten Frauenförderprogramme insinuieren: "Man darf sich Elise Richter keinesfalls als Feministin heutigen Zuschnitts vorstellen."

2006 erhielten Brommer und Karner den Auftrag der Forschungsplattform Frauen- und Geschlechtergeschichte an der Uni Wien, nach unveröffentlichten Tagebucheinträgen von Frauen zu suchen, diese aufzunehmen und zu erfassen. "Mehr durch Zufall" stießen sie dabei in der Rathaus-Bibliothek auf 60 Büchlein im Format 9×13 Zentimeter, die einst von der Romanistin Elise Richter (1865–1943) eng beschrieben worden waren, der ersten an der Uni Wien habilitierten Frau und der ersten (außerordentlichen) Professorin ebendort. Mitte kommenden Jahres erscheint, auf Basis dieser Tagebücher, eine Biografie von Elise Richter, geschrieben von den beiden Historikerinnen.

Ungehobener Schatz

Der Fund stellte sich für die Geschichtswissenschaft als ungehobener Schatz heraus, um den mittlerweile ein Restitutionsverfahren läuft. Schließlich dokumentieren die Tagebücher das Leben der Wiener Romanistin nahezu lückenlos, sie geben auch eine höchst private Seite der Wissenschafterin preis. Sie zeichnen das Bild einer verschlossenen Frau, die es gewohnt war, im Leben die Zweite hinter ihrer um vier Jahre älteren, weit glanzvolleren Schwester Helene zu sein. Bei Helene schien alles leichter: Ohne studiert zu haben, galt sie unter gebildeten Wienern als anerkannte Anglistin und Theaterkritikerin, ganz zu schweigen von ihrem schriftstellerischen Talent.

Das Frauenbild, das ihre Eltern und die protestantische Erzieherin Elise vermittelt hatten, war das einer Dulderin, die der männlichen Autorität unbedingt untergeordnet zu sein hatte. Elise liebte ihre Erzieherin, obwohl diese sie, wie sie später in ihren autobiografischen Schriften formulieren sollte, mit schwarzer Pädagogik gefügig gemacht und "in eiserner Unterwürfigkeit" gehalten hatte.

Ihr zurückhaltendes Auftreten verlor Elise nie, sie war keine Erscheinung, und ihr Vortrag fesselte offenbar auch nicht. Ihre Vorlesungen, in denen sie "die Romania von Altportugiesisch bis Istrorumänisch virtuos" durchquerte, seien "sachlich, etwas schüchtern-monoton" vorgetragen gewesen, erinnerte sich Leo Spitzer 1948 an seine einstige Lehrerin. Ihre Forschung wird heute differenziert beurteilt: "Für eine Frau damals besonders ungewöhnlich, vertritt sie unter anderem naturwissenschaftlich orientierte Forschungsbereiche wie die Phonetik, bereits unter Einschluss der Akustik und Physiologie", schrieb Bernhard Hurch, Vorstand des sprachwissenschaftlichen Instituts der Uni Graz, in den "Grazer Linguistischen Studien".

Mittel zum Zweck

Elise hatte aber, bei aller Unsicherheit, ein umso reicheres und leidenschaftlicheres inneres Leben. Ihr nie erlöschender Wissensdurst machte die Anziehungskraft der Universität und deren ehrwürdiger Bibliothek magisch. Es war letztlich ein Mann, der Elise den Weg zur Romanistik eröffnete und dem sie dafür bis zu seinem Tode eng verbunden blieb: Adolf Mussafia, Begründer der Romanistik an der Universität Wien. Von 1891 bis 1895 wohnte er mit Gattin im selben Haus wie Elise und Helene und schien eher ein Auge auf Letztere geworfen zu haben, wie die Historikerinnen Brommer und Karner heute aufgrund von Elises Tagebüchern mutmaßen.

Der Nachfolger auf Mussafias Lehrstuhl, Wilhelm Meyer-Lübke, war ein weiterer wichtiger Mann in Elises Leben – laut Hurch "schon etwas weniger väterlich". Meyer-Lübke motivierte sie zur Habilitation.

Karner und Brommer sind überzeugt: "Elise Richter war ein universitärer Status sehr wichtig, aber er war für sie Mittel zum Zweck." Sie sehnte sich nach Ansehen, "aber genauso hatte sie sich in ihrer Jugend nach einem Ehemann und Kindern gesehnt". Die jahrelange Pflege der kränklichen Mutter machte sie allerdings zu einem "späten Mädchen" – das verringerte ihre Heiratschancen ebenso wie die Tatsache, dass wohl nicht wenige Männer eine intellektuelle Frau an ihrer Seite scheuten.

"Keine Frauenrechtlerin"

Dabei war Elise darauf bedacht, nicht als "Frauenrechtlerin" wahrgenommen zu werden, mit der politischen Frauenbewegung wollte sie nichts zu tun haben. In ihrem Tagebuch findet sich ein Eintrag, dass sie bei einem Gespräch mit dem Minister über ihrer Dozentur ganz vergessen habe zu erwähnen, "dass ich keine Frauenrechtlerin bin". Zwar war sie Gründerin und Vorsitzende des Verbandes der akademischen Frauen Österreichs, wo sie allerdings wegen der internen politischen Querelen ihre Funktion wieder zurücklegte – genauso wie sie ihr politisches Engagement für eine der zahlreichen bürgerlich-liberalen Kleinparteien wieder einstellte.

Mit der politischen Linken konnte sie sich nie anfreunden, im Ersten Weltkrieg trieb ihr Konservativismus sogar teils seltsame Blüten. Sie schrieb etwa einen "Boche"-Aufsatz, in dem sie das französische Schimpfwort "boche" für die Deutschen unter "sprachwissenschaftlichen und etymologischen wie ideologischen Gesichtspunkten analysierte, um schließlich auch daraus eine Überlegenheit der Deutschen gegenüber den Franzosen zu konstruieren". Das falle "klar unter das Etikett ideologische Kriegsführung", schrieb Hurch. Eine Kostprobe: Während die Franzosen nicht über das Schimpfwort hinauskämen, würde man hier sogar dieses noch "kühl" und mit "heiterer Sachlichkeit" wissenschaftlich diskutieren. Eine Deutschnationale war Elise Richter freilich nicht – sie fühlte sich dem Ständestaat ideologisch zugehörig.

Die Einträge in biografischen Lexika zeichnen dagegen das Bild einer frühen Feministin: Geboren als zweite Tochter eines gutsituierten Chefarztes bei der k.k. Südbahn, bekam Elise im Elternhaus zwar die herkömmliche zeitgenössische Bildung vermittelt, nicht aber ein Studium genehmigt, weil dies als "unmädchenhaft" empfunden wurde. Elise musste ihre Habilitation an der Romanistik 1907 als erste Frau erkämpfen, ebenso ihre außerordentliche Professur an der Universität 1921 mit (unbezahlter) Privatdozentur.

Für diese "Karriere" Elises gingen die Schwestern auch pragmatische Kompromisse ein. Obschon umgeben von einem jüdischen Freundes- und Bekanntenkreis, wurden sie protestantisch, "weil es notwendig ist", wie Elise lapidar vermerkte. Ihr Religionsvermerk "konfessionslos" habe auf die Universitätsgranden verstörend gewirkt.

Tod in Theresienstadt

In der Nazizeit verlor Elise als "Rassejüdin" erst ihre Lehrtätigkeit, dann ihr Recht auf den Besuch der Universitätsbibliothek. Die beiden mittlerweile betagten Schwestern, die zeit ihres Lebens keine glückliche Hand in Gelddingen gehabt hatten, verarmten völlig und lebten nur noch, möglichst diskret. 1942 wurden Elise und Helene nach Theresienstadt deportiert, wo Helene 1942 und Elise 1943 starb.

Lange vergessen, wurde Elise Richter in den 1990er-Jahren "wiederentdeckt". Ein Forschungsprojekt am Institut für Romanistik untersuchte erstmals Leben und Werk von Elise und Helene, der Romanist Robert Tanzmeister forderte die Umbenennung des Dr.-Karl-Lueger-Rings in "Dr.-Elise-Richter-Ring". Heute erinnern der Elise-Richter-Saal im Uni-Hauptgebäude in Wien, das Elise-Richter-Tor auf dem Campus, eine Elise-Richter-Gedenktafel am Institut für Romanistik, die Elise-Richter-Straße in Strebersdorf und ein eigener "Elise und Helene Richter"-Weblog an die Schwestern.

Diese Auszeichnungen wären wohl eine späte Genugtuung für Elise gewesen, die bis zuletzt, verarmt, entwürdigt und todkrank, um Anerkennung rang. Während auf Helenes Totenschein von Theresienstadt nur ihr Name und das Sterbedatum zu finden sind, ist Elise dort mit Doktortitel und Universitätsrang vermerkt, sowie der Name ihres Vaters und sein akademischer Grad.

"Wir haben lange überlegt, ob wir ihre Biografie auf Basis der Tagebücher schreiben sollen", sagen Karner und Brommer. Die Einträge zeigten, dass die "Pionierin des Frauenstudiums, die Wissenschafterin, die Salonière und Jüdin weit widersprüchlicher war als bisher angenommen". Am Ende taten sie es dennoch, weil ihnen ein frühes Testament Elises in die Hände gefallen war. Darin heißt es: "Was ich an Tagebüchern, Erinnerungsblättern (...) geschrieben, soll aufgehoben werden. Dies mein zweites Leben soll nicht gemordet werden, mein Herz schlägt darin." (Petra Stuiber, 10.6.2015)