Ein Wegweiser, er Hoffnung macht: Ob der Linzer Stadtteil für den Syrer Wasim zur neuen Heimat wird, bleibt vorerst offen.

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Lange Gänge, kleine Zimmer.

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Erbrochenes im Waschbecken des Gemeinschaftsbades im Arbeiterwohnheim.

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Der Herd bleibt oft kalt - das Geld für Essen fehlt.

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Linz - Schon auf der Fahrt von Wien nach Linz unterhält der joviale Schaffner die Reisegesellschaft mit Schnurren über "die Flüchtlinge", die - angeblich - mit allen Tricks versuchen, sich eine Gratisreise zu erschleichen, im Klo, auf dem Gang, ganz vorn im Zug oder ganz hinten. Jedenfalls auf der Flucht vor ihm, wie es halt die Art der Flüchtlinge ist. Wenn er den Zug allein betreuen muss, erzählt er einem Fahrgast, dann schafft er es natürlich nicht, allen nachzulaufen und sie einzufangen.

"Ein ganz Geschickter kommt von Wien bis nach Salzburg!", räumt er resigniert ein. Aber er ist auch geschickt, und an guten Tagen schmeißt er schon in St. Pölten ein paar hinaus. Dass er selbst unter Druck steht in seinem Job, dass er einen ganzen überfüllten Railjet allein wegzwicken muss und dann die ganze Strecke wieder retour, das verrät er uns dabei lediglich in Nebensätzen.

Wasim schaffte es immerhin bis nach Linz. Er ist Syrer aus Damaskus und vor sechs Monaten in Österreich gestrandet, ohne Familie, die er in der Türkei zurücklassen musste. Von Izmir aus brachte ihn ein Schiff nach Kios, wird er mir später erzählen, von dort kam er nach Athen ins Camp Montelisa, den momentanen Albtraum aller, die Schutz suchen.

8000 Euro bis Traiskirchen

Aus einem Lkw, in dem er zusammen mit acht anderen tagelang eingezwängt war zwischen Kartons, warf man ihn schließlich vor den Toren Wiens hinaus, wo heute die meisten Flüchtlingsrouten enden. Jemand rief und bezahlte ihm noch ein Taxi und sagte: "Traiskirchen", der Fahrpreis war im 8000-Euro-Gesamtpaket inbegriffen. Mittlerweile steht der Tarif bei 15.000 Euro für eine Flucht dieser Klasse, eine Vorteilscard gibt es dafür nicht. Der Schaffner weiß von alldem vielleicht nichts.

Vom Erstaufnahmezentrum ging es für Wasim nach Unken in Salzburg, Hotel Alpina. "45 Asylwerber neben 42 Unkern" lauteten die abwehrenden Schlagzeilen in einem Land, dessen Festungschefs, so hat man den Eindruck, mit den Flüchtlingen so überfordert sind wie der Schaffner mit den Gästen in seinem Railjet. Wasim wurde weitergespült nach Linz, wo ihm schließlich der Asylstatus zuerkannt wurde. Er war angekommen in der Festung Europa, aber anfangen konnte und wollte hier niemand etwas mit ihm.

Also was tun? "Diese Menschen bleiben in Österreich, sie gehen nie mehr zurück!"

Diese realistische Einschätzung liefert, mit einiger Fassungslosigkeit über die Ignoranz der politischen und verwaltungstechnischen Entscheidungsträger, die toughe Mitarbeiterin einer NGO, die sich um anerkannte Flüchtlinge wie Wasim kümmert. Sie möchte hier nicht namentlich genannt werden, weil sie die Reaktionen kennt, sobald sich in diesem Land jemand für Flüchtlinge einsetzt.

Vorschriften und Schikanen

Ich treffe mich mit ihr im kleinen Büro ihrer Organisation. Vor dem Eingang des Hauses steht ein mächtiger schwarzer Land Rover des Typs Defender, als hätte ihn noch extra ein Festungsmitarbeiter hier abgestellt, um den Frontverlauf zu klären. Draußen die Armutschkerln, die hereinwollen. Und herinnen die Verteidiger der Festung, die an all den Vorschriften und Schikanen basteln, mit denen man den anerkannten Flüchtlingen zumindest das Gefühl geben will, hier nicht willkommen zu sein, wenn man ihnen den Flüchtlingsstatus schon nicht verwehren kann.

"Asylwerber werden heute von den Erstaufnahmezentren in organisierte Flüchtlingsquartiere gebracht", erklärt die Mitarbeiterin das alimentierende System, das nicht nur ihrer Meinung nach das völlig falsche ist. "Sie erhalten dort monatlich Taschengeld, sind zur Untätigkeit gezwungen, dürfen nicht arbeiten und werden von Ehrenamtlichen, die den Flüchtlingstyp 'große Mandelaugen' bevorzugen, mit Engagement überschüttet. Aber sobald ein positiver Asylbescheid vorliegt, endet die Solidarität mit dem nun gleichberechtigten Menschen meist abrupt."

Anders als in Schweden zum Beispiel gibt es in Österreich nämlich kein standardisiertes Programm zur Integration. Man will den Flüchtlingen in den Ämtern und Institutionen einfach nicht auf Augenhöhe begegnen, lieber markieren dort alle den halbstarken Festungschef und geben den neu Angekommenen zu verstehen: "Auf dich hat keiner gewartet!"

System nicht durchlässig

"Menschen, die in Österreich Asyl erhalten, bekommen außer der Mindestsicherung vom Staat einfach keine Hilfe mehr!", klagt die Mitarbeiterin. "Sie werden von NGO-Projekten vereinzelt mit Wohnungen versorgt, vereinzelt finden wir Arbeit für sie, vereinzelt finden wir leistbare Deutschkurse. Dabei wollen diese Menschen partizipieren, sich einbringen. Vor allem die syrischen Asylberechtigten sind extrem gewillt zu arbeiten, sind dankbar, dass Österreich ihnen Asyl gewährt und dass sie hier in Frieden und Sicherheit leben können. Aber dann werden sie enttäuscht, weil sie sehen, dass es in Österreich keine Durchlässigkeit in die Systeme gibt."

Zum Beispiel Wohnen: Bis 2013 half der Staatliche Integrationsfonds zumindest bei der Wohnungssuche mit befristeten Startwohnungen. Aber nun wirft die Festung die Asylanten lieber als Futter in die große Maschine namens freier Markt hinein. "Sobald der Flüchtling Asylstatus erhält, muss er in Oberösterreich binnen vier Monaten das organisierte Flüchtlingsquartier verlassen", erklärt die Mitarbeiterin.

Der freie Markt funktioniert aber schon für die Alteingesessenen nicht, wie die zunehmend schwierige Wohnsituation immer breiterer Bevölkerungsschichten beweist. Und diese nüchterne Erkenntnis gilt erst recht für Flüchtlinge, die nicht nur ihr Haus und ihre Heimat, sondern buchstäblich alles verloren haben: "Wohnraumfindung ist das existenzielle Thema" sagt die NGO-Mitarbeiterin. "Es ist Voraussetzung, um nach der Flucht zur Ruhe zu kommen und hier Fuß fassen zu können."

Auch Einheimische profitieren

Wer aber innerhalb der gesetzten Frist hier keine Wohnung findet, der landet in der Obdachlosigkeit oder bezahlt dann in Wien oft bis zu 500 Euro für ein Zimmer in desolaten Altbauwohnungen. Auch in Linz kennt man bei den NGOs mindestens zwei Hausbesitzer, die ihre Häuser in schlechten Lagen auf diese Weise vollräumen. Obendrein freuen sich die Makler, wenn sie für die "Vermittlung" ein und desselben heruntergekommenen Lochs mehrmals pro Jahr Provision kassieren. Es profitieren also nicht nur die bösen Schlepper von diesem unmenschlichen System, sondern auch viele Einheimische. Und irgendjemand "da oben" muss das so wollen.

"Um seine Flucht zu finanzieren", erzählt die Mitarbeiterin, als Wasim zu ihr ins Büro kommt, "hat er sein gesamtes Hab und Gut veräußert, seine Frau und die beiden Kinder sitzen seit Wochen in Ankara fest und müssen dort für ein Zimmer ebenfalls 400 Euro pro Monat bezahlen, bis sie das Einreisevisum von der Österreichischen Botschaft in Ankara bekommen.

Sobald sie dieses in Händen halten, muss Wasim das Flugticket für seine Frau und die beiden Kinder organisieren, er rechnet mit weiteren 2000 Euro, die er nicht hat. Er bekommt 903 Euro bedarfsorientierte Mindestsicherung (BMS) vom Land, bezahlt davon 340 Euro Miete in einem desolaten Arbeiterwohnheim, wo er zurzeit untergebracht ist, und schickt 400 Euro an seine Frau, damit die ihr Zimmer bezahlen kann. Der Rest? Er isst kaum noch, was man ihm mittlerweile auch ansieht."

Wasim ist 42 Jahre alt, sein stilles Gesicht ist rot, die Augen haben einen feuchten Schimmer, der Mund ist schmal, sein Bauch aufgebläht, sein Akku läuft sichtbar auf Reserve. Das Plastiksackerl mit allen Dokumenten drin umfasst er mit schwachen Händen.

Katastrophale finanzielle Situation

Die Mitarbeiterin sagt: "Die Syrer unterstützen sich gegenseitig, wo sie nur können, aber die finanzielle Situation ist bei allen gleich katastrophal. Der Stress endet bei diesen Menschen nie. Man könnte verstehen, wenn mal einer laut wird. Aber das ist mir in all den Jahren nur ein einziges Mal passiert, dass mich einer in seiner Verzweiflung angeschrien hat. Alle anderen verhalten sich trotz dieser ganzen Widrigkeiten mir gegenüber dankbar, respektvoll, freundlich, ungemein tapfer und würdevoll."

Und wie verhalten wir uns ihnen gegenüber, der Staat? "Im Oberösterreichischen Mindestsicherungsgesetz steht, dass man bedarfsorientierte Mindestsicherung nur ausbezahlt bekommt, wenn man die Bemühungspflicht zur Arbeitssuche vorweisen kann", erklärt die Mitarbeiterin die etwas sperrige Gesetzgebung.

"Ich habe aber nun wirklich keinen einzigen Klienten, der die BMS beziehen und die soziale Hängematte genießen möchte, ganz im Gegenteil: Jeder Tag früher, an dem sie dieses Martyrium der Alimentation verlassen und arbeiten könnten, wäre ein Feiertag für sie. Allmonatlich müssen sie Demütigungen über sich ergehen lassen und sich anhören, dass sie arbeitsscheu seien.

Bauchschmerzen und Schweißausbrüche

Der Termin beim Magistrat wegen der BMS ist für viele der schlimmste Tag im Monat, sie haben Bauchschmerzen, kriegen Schweißausbrüche. Einerseits fürchten sie sich vor den Demütigungen durch die Mitarbeiter, andererseits vor den immer neuen Aufforderungen, weitere Papiere nachreichen zu müssen, um die BMS überhaupt zu erlangen bzw. nicht zu verlieren."

Wasim ist ausgebildeter Werbefachmann, aber das AMS, das ihn nicht will, schickt ihn zu Firmen, die ihn weder brauchen noch wollen, schon deshalb, weil er ja noch kein Deutsch kann. Dafür wiederum gibt es keine leistbaren Kurse. "Die Abkürzung AMS beinhaltet das Wort Service", beklagt die Mitarbeiterin weiter. "Aber wo der liegen soll, habe ich in all den Jahren nicht herausgefunden. Sie beharren dort auf der Amtssprache Deutsch, sprechen nie Englisch mit den Menschen. Außerdem registrieren sie jeden Chirurgen, Biochemiker oder sonst wie hochqualifizierten Asylberechtigten als Hilfsarbeiter oder Reinigungskraft.

Sie degradieren diese Perlen der Gesellschaft von Anfang an, und nach einer gewissen Zeit haben sie es tatsächlich geschafft, dass sich die Asylberechtigten wertlos fühlen. Ihr anfänglicher Drang, an unserer Gesellschaft teilzuhaben, hier Steuern zu zahlen, hier aktiv mitzuwirken, ihre Uniabschlüsse, ihr Wissen, ihr Können für Österreich einsetzen zu können, endet nach wenigen Monaten, denn wertgeschätzt oder auch nur formell anerkannt werden diese Ressourcen überhaupt nicht! Im Gegenteil: Unser System zerstört sie regelrecht!"

Sie haben dann nämlich zu oft gehört: "Nach dir hat niemand gerufen! Dich können wir nicht brauchen! Geh wieder heim! Zuerst musst du ordentlich Deutsch reden!"

Traurig, aber nicht frustriert

Während unseres Gespräches öffnet die Mitarbeiterin in ihrem Computer ständig Ordner, scannt Dokumente, verschickt zwischenzeitlich Mails, telefoniert, redet und löst Probleme. Sie sitzt hier von sechs Uhr morgens bis 18 Uhr abends, und wenn sie nach Hause geht, wird sie eine Banane gegessen haben. Ob sie nicht manchmal frustriert sei, frage ich sie, und sie antwortet bewundernswert ruhig: "Meine Kolleginnen und ich haben keinen Frust. Wir sind oft traurig über das, was alles schiefläuft, und man fühlt sich ohnmächtig. Ich kann einfach nicht verstehen, wie man Menschen so fertigmachen und psychisch bewusst terrorisieren kann."

Aber sie sehen andererseits auch, dass die Leute beim AMS, meist ungeschult im Umgang mit Flüchtlingen und von "oben" völlig alleingelassen, genauso am Ende sind, genauso überfordert mit diesem Ansturm. Die Mitarbeiterin kann also auch ihre Seite verstehen, mit der Einschränkung freilich: "Ich muss in alldem Stress den Menschen zumindest normal begegnen, das ist meine Meinung. Letztlich sitzen wir doch alle im gleichen Boot."

Für Wasim kann die Mitarbeiterin heute sogar tief in die Wunderkiste greifen: Eine kleine, halbwegs leistbare Wohnung, die sie ohne Provision vergeben kann, wäre ab Mitte Juni zu beziehen. Sie beschreibt sie als "nicht sehr schön, aber im fünften Stock mit Balkon." Nach sechs Monaten, in denen er durch die Hölle gegangen ist, sieht dieser Mann nun endlich Licht am Ende des Tunnels. Er sagt sofort zu, ohne die Wohnung überhaupt besichtigt zu haben, denn er vertraut ihr. Was er in seinem Plastiksack mit sich herumträgt, das hat sie ihm besorgt - sein neues Leben.

Mit Lungendurchschuss geflüchtet

Draußen wartet Wasims Freund auf ihn. Er ist 23 und deutlich fitter, obwohl er mit einem Lungendurchschuss hierhergekommen ist. Er lebte in Damaskus im Stadtteil Al-Tadamon und war auf dem Weg zur Uni, als die Schießerei begann. Als er wieder auf den Beinen war, wollte er nur noch weg, wanderte auf seiner Flucht tagelang über den Balkan. Wenn er davon erzählt, kann man nicht umhin, sich die Flüchtlingsrouten Europas wie seltsame Verkehrswege vorzustellen: Der Afghane zieht rechts an einem vorbei, der Somalier fällt links deutlich zurück, mit den Tamilen bildet man kurzzeitig einen Konvoi.

Tage, Wochen, Monate später trifft man sich überraschend innerhalb der Festung wieder. Als ich mit den beiden Syrern in den Bus steige, laufen sie in einen Afrikaner hinein ("I think Somalia", sagt Wasim), später an der Goethekreuzung kommen drei andere Syrer auf sie zu und fragen nach Western Union. Geldtransfer ist neben Internet die große Sache für Flüchtlinge.

Wasims Freund hat einen Platz in einem privaten Deutschkurs gefunden, "Griaß di, pfiat di" sagt er immer wieder, es macht ihm Spaß. Er ist Techniker und würde gern sein Studium hier beenden. Österreich findet er "great". Was wir ihnen hier bieten, ist unbezahlbar: Sicherheit. Die Menschen, die ihnen im Alltag außerhalb der Ämter begegnen, sind in ihren Augen allesamt "very good people". Nazis haben sie hier noch keine gesehen, dafür ein paar einheimische Kopftuchträgerinnen und solche mit Goldhauben. Als tolerante Christen nehmen sie es locker.

Elf Euro pro Nacht

Die beiden laden mich noch ein, ihre momentane Unterkunft zu besuchen, ein Arbeiterwohnheim nahe einem großen Einkaufszentrum. Die Schutzplatten der Fassade bröckeln, dahinter verbergen sich drei Stockwerke mit langen Gängen und kleinen Zimmern, wo früher und auch heute noch vereinzelt Arbeiter von auswärts oder sonst wie Gestrandete um elf Euro pro Nacht untergebracht sind.

Im Gemeinschaftsbad ist ein Waschbecken vollgekotzt, Wasim holt dort Wasser und kocht syrischen Kaffee auf der Flamme eines verdreckten Herdes in der versauten Küche daneben. Die Klos eine Tür weiter sind allesamt vollgeschissen. Irgendwann hört der Mensch auf, Mensch sein zu wollen. Nachts gibt es Lärm und keine Rücksichtnahme. Der Stadtteil, in dem sie gestrandet sind, heißt Neue Heimat.

Vor dem Eingang des Hauses steht ein schwarzer Land Rover des Typs Defender, als hätte ihn noch extra ein Festungsmitarbeiter hier abgestellt, um den Frontverlauf zu klären.

Autobahnwegweiser, die Hoffnung machen: Ob der Linzer Stadtteil für den Syrer Wasim zu einer neuen Heimat wird, bleibt erst einmal offen. (Manfred Rebhandl, 13.6.2015)