
Die metaphorisch gemeinte "Wiedervereinigung der beiden Koreas" ist selbst noch im Wartesaal vor dem Standesamt denkunmöglich: virtuose Skizzen der Compagnie Louis Brouillard.
Wien - Der Boden in der Halle E des Museumsquartiers ist, den Scheinwerfern sei Dank, schwarzweiß gewürfelt. Finsternis liegt über der Stätte. Eine Stimme stellt aus dem Off die alles entscheidende Frage: "Wie lange sind Sie verheiratet?" Eine Frau steht ganz am Anfang eines vor ihr liegenden Weges voller Entbehrungen. Sie will nach 20 Jahren Ehe die Scheidung. Ein bleicher Spot klebt auf ihr, ihre Stimme scheint in einen Mantel aus Frost gehüllt.
Die Bühne der Pariser Compagnie Louis Brouillard bildet einen langen Turnierplatz. Das Publikum sitzt zu beiden Seiten auf Tribünen. Man lauscht mit ständig wachsendem Wohlgefallen den französischen Texten aus der Feder des Theatermachers Joël Pommerat. 20 Szenen werden der Stockfinsternis entrissen. Jede einzelne Szene verhandelt eine bestimmte Facette der Liebe. Keine dauert länger als zehn Minuten. Man ist nicht unbedingt klüger geworden nach Genuss dieser galligen Miniaturen. Aber ein paar Mal glaubt man, das eigene Herz wäre mitten entzweigebrochen.
La Réunification des deux Corées nennt sich Pommerats Kettenerzählung. Sie besteht aus amourösen Nichtigkeiten. Die eingangs geschilderte Frau will nicht etwa deshalb die Scheidung, weil sie den Vater ihrer Kinder verachten würde. Sie sagt bloß: "Wir lieben uns nicht." Das ist völlig ausreichend, um das bürgerliche Ordnungsgefüge zu sprengen.
Ding der Unmöglichkeit
Pommerats Figuren hausen alle hinter einer unsichtbaren Wand. Die Sketches bilden Modellbauten: Wohin soll sich der Mensch mit seiner Liebe wenden? Es ist allein die Unbedingtheit des Anspruchs, die zählt. Ihretwegen ist die - metaphorisch gemeinte - Wiedervereinigung der beiden Koreas das berühmte Ding der Unmöglichkeit.
Eine nicht mehr junge Braut hetzt im weißen Kleid zum Standesamt. Der Bräutigam steht seinerseits im Spätsommer des Lebens. Vier Schwestern geben dem Paar widerwillig das Geleit. Da schert die (vielleicht jüngste?) Schwester aus und proklamiert ihren völlig unwiderleglichen Anspruch auf den Mann.
Die Hochzeitsgesellschaft versinkt im Chaos. Jede einzelne der Schwestern gibt vor, mit dem Bräutigam irgendwann einmal intim gewesen zu sein. Szenen wie die beschriebene sind federleicht: Man kann sie wegpusten, aber sie bleiben unweigerlich hängen. Sie leben von der Fähigkeit der Schauspieler, mit wenigen, wirksamen Gesten Sozialcharaktere entstehen zu lassen. Sie atmen die Leichtigkeit, von der Botho Strauß vielleicht einmal geträumt hat. (Ronald Pohl, 15.6.2015)