Wien - Eine Nachrichtenwebseite aus Estland ist für anonyme Kommentare verantwortlich und muss Bedrohungen und Hetze auch ohne einen Hinweis von Betroffenen löschen. Eine Forderung von Schadensersatz gegen das Portal sei daher rechtens, dies entschied am Dienstag der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg zu einem konkreten Fall. Über diese Entscheidung wurden schon im Vorfeld berichtet, und über mögliche Auswirkungen für Medien und Forenbetreiber debattiert.

Der Rechtsstreit reicht Jahre zurück und dreht sich um das estnische Portal "Delfi" und die Frage, ob Forenbetreiber für die Postings ihrer User haften. 2006 hatten Poster einen estnischen Geschäftsmann beleidigt und verleumdet. Stein des Anstoßes war ein Artikel, in dem der Betreiber einer Fähre für die Zerstörung von "Eisstraßen", also von Verbindungen zwischen Festland und Inseln, verantwortlich gemacht wurde. Von 185 Kommentaren zu dem Thema enthielten einige persönliche Drohungen oder Beleidigungen.

Entschädigungszahlung

Der Unternehmer klagte daraufhin "Delfi" und siegte im nationalen Instanzenzug. Im zivilrechtlichen Verfahren wurde ihm eine Entschädigungszahlung von 320 Euro zugesprochen. Nicht die Summe ist für das Portal das Problem, sondern die Grundsatzfrage, ob die Annahme des (estnischen) Gerichtes, dass der Medieninhaber für Kommentare seiner User haftbar gemacht werden kann, ein Verstoß gegen die Europäische Menschenrechtskonvention ist. Eine maschinelle Moderation sei nicht ausreichend und die Postings seien nicht schnell genug entfernt worden, heißt es in der Entscheidung.

Die meisten Verlagshäuser waren im Vorfeld des Urteils der Meinung, dass das Recht auf freie Meinungsäußerung torpediert werden könnte und der Spruch nicht im Einklang mit der Pressefreiheit stehe.

Hans-Peter Lehofer, Verwaltungsrichter und Ex-Chef der Medienbehörde KommAustria, sagt Ende Mai zum STANDARD, dass das Urteil nicht überwertet werden sollte, denn auch wenn es sich um eine Richtungsentscheidung auf europäischer Ebene handle, gehe es immer um die konkreten Umstände von Einzelfällen.

Lage in Österreich

In Österreich sind nach dem E-Commerce-Gesetz Webseiten grundsätzlich für Postings ihrer User nicht verantwortlich, es sei denn sie erhalten Kenntnis von inkriminierenden Inhalten. Dann müssen sie solche Kommentare löschen oder unter bestimmten Umständen die Userdaten herausgegeben.

Medien wie der STANDARD oder die "Zeit" beschäftigen Community-Manager, die Foren kontrollieren und moderieren. Auf die österreichische oder deutsche Rechtslage dürfte die Entscheidung keine Auswirkungen haben.

Statement der Wiener Medienanwältin Maria Windhager zum Urteil: "Ich gehe davon aus, dass das Urteil des EGMR nicht - so wie von vielen befürchtet - weitreichende Folgen haben wird.

Der EGMR hat nämlich gar nicht ausgesprochen, dass Forenbetreiber für Beleidigungen durch Nutzer haften würden. Er hat nur ausgesprochen, dass die konkrete Verurteilung eines großen, kommerziellen Portalbetreibers zu einem Schadensersatz von lediglich EUR 320,- wegen extrem beleidigenden Kommentaren durch estnische Gerichte nicht die Menschenrechtskonvention verletzt hat.

Problematisch ist aber, dass nach Ansicht des EGMR ein Portalbetreiber selbst dann haften könnte, wenn er nicht auf Verstoß aufmerksam gemacht wurde. Für Österreich hat das aber jedenfalls keine unmittelbaren Auswirkungen: die österreichische Rechtslage sieht eindeutig vor, dass Portalbetreiber auf Verstöße hingewiesen werden müssen bevor eine unmittelbare Haftung überhaupt denkbar wäre." (red, 16.6.2015)