Wer ist verantwortlich, wenn bei Grenzkontrollen im Mittelmeer Flüchtlinge zu Schaden kommen, wenn ihnen ihre Rechte verweigert werden? Es ist ein sehr komplexes Thema, sagt Fabiane Baxewanos von der Universität Wien. Prüfungen durchzuführen und Verantwortlichkeiten zu klären ist oft nicht möglich.

STANDARD: Sie forschen derzeit über die völkerrechtliche Verantwortung Europas für Menschenrechtsverletzungen bei extraterritorialen Migrationskontrollen. Was sind Ihre bisherigen Erkenntnisse?

Baxewanos: Es kommt momentan de facto zu einer Vorverlagerung der EU-Außengrenzen. Dabei gibt es die weitverbreitete Auffassung: Wenn sich ein Staat außerhalb seines Territoriums bewegt, wenn er Kontrollmechanismen an Staaten in Nordafrika oder Private abgibt, dann gilt europäisches Recht oder Völkerrecht für ihn nicht mehr.

STANDARD: Im Fall Hirsi hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) 2012 zugunsten afrikanischer Flüchtlinge entschieden, die vor Lampedusa in internationalen Gewässern von italienischen Behörden aufgegriffen und zurück nach Tripolis gebracht wurden. Ihnen wurde Schadenersatz zugesprochen. Welche Auswirkungen hatte dieser Fall?

Baxewanos: Das Spannende an diesem Fall ist, dass das EGMR die italienische Jurisdiktion bejahte, obwohl sich alles auf internationalen Gewässern abgespielt hat. Somit war Italien an die Europäische Menschenrechtskonvention gebunden. Die entscheidende Frage war: Ist die Kontrolle des Staates über die konkrete Operation effektiv genug, um ihn menschenrechtlich zur Verantwortung ziehen zu können? In diesem Fall war sie so stark ausgestaltet, dass die Flüchtlinge Recht bekommen haben.

STANDARD: Wer ist bei der EU-Grenzschutzagentur Frontex verantwortlich?

Baxewanos: Frontex ist eine EU-Agentur und besteht aus Einheiten verschiedenster Mitgliedsstaaten. Es ist schwierig, eine Aktion einem bestimmten Land zuzuordnen. Und die EU selbst ist der Europäischen Menschenrechtskonvention noch nicht beigetreten.

STANDARD: Die EU-Kommission hat eine Arbeitsgruppe für Sicherheitsforschung eingesetzt. Darin vertreten sind auch Waffenfirmen. Kann man die für Menschenrechtsverletzungen zur Rechenschaft ziehen?

Baxewanos: Man müsste sich die einzelnen Vereinbarungen genauer ansehen. Allerdings bekommt man oft keinen Einblick, weshalb eine rechtliche Prüfung nicht möglich ist.

STANDARD: Welche völkerrechtlichen Instrumente gibt es, um Menschenrechtsverletzungen außerhalb des eigenen Territoriums zu sanktionieren?

Baxewanos: Neben dem Element der extraterritorialen Jurisdiktion gibt es positivrechtliche Schutzpflichten: Wenn ein Staat die effektive Möglichkeit hat, einen Menschen, mit dem er in einem gewissen Naheverhältnis steht, zum Beispiel vor Folter zu schützen, dann hat er das zu tun. Außerdem hat die UN-Völkerrechtskommission die sogenannten Artikel zur Staatenverantwortlichkeit ausgearbeitet. Demnach kann selbst bei Kooperationen mit Drittstaaten oder Privaten der dahinter stehende Staat für völkerrechtswidriges Verhalten, etwa die Verletzung des Grundsatzes der Nicht-Zurückweisung von Flüchtlingen, verantwortlich sein.

Allerdings sind alle Instrumente sehr vage formuliert, wodurch die Rechtsprechung der verschiedenen Gerichte unterschiedlich ist. Aber bereits davor gibt es praktische Probleme. Die betroffenen Menschen sprechen oft die Sprache nicht, es gibt keinen Rechtsbeistand. Meist fehlen also Kläger und die Dokumentation, um überhaupt vor Gericht kommen zu können. Zum Thema extraterritorialer Migrationskontrolle gibt es daher mit Hirsi Jamaa genau einen Fall, der bisher vom EGMR entschieden wurde. (Kim Son Hoang, 18.6.2015)