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Flüchtlinge bei Szeged, 170 Kilometer südöstlich von Budapest.

Foto: APA/EPA/ZOLTAN GERGELY KELEMEN

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Wien – Außenminister Sebastian Kurz (ÖVP) hat gegen die am Dienstag öffentlich gewordene Entscheidung Ungarns, sich nicht mehr an die Verordnung zur Rücknahme von Asylwerbern zu halten, protestiert: Es sei "inakzeptabel", dass der Nachbarstaat die sogenannte "Dublin-III-Verordnung" aussetze, so Kurz. Am Mittwoch ruderte Budapest allerdings zurück; man habe nicht die Anwendung einer EU-Rechtsnorm gekündigt, eine solche Entscheidung sei nicht getroffen worden, erklärte der ungarische Außenminister Péter Szijjártó am Mittwoch bei einer Pressekonferenz.

Bestehende Missverständnisse sollten ausgeräumt werden, wurde Szijjártó von dem Internetportal der Tageszeitung "Nepszava" zitiert. Ungarn halte alle Rechtsnormen der EU ein.

Jedoch habe die Regierung Informationen erhalten, wonach Österreich und andere zehn EU-Staaten illegale Einwanderer nach Ungarn zurückschicken wollen, und "damit sind wir nicht einverstanden", betonte Szijjártó. Denn diese Asylwerber hätten das EU-Territorium nicht in Ungarn, sondern in Griechenland betreten, deswegen müssten sie dorthin zurück. Die Regierung wies den Justizminister an, umgehend Verhandlungen mit der EU-Kommission zum Thema zu beginnen.

Dublin-III-Verordnung ist bindend

Die Dublin-III-Verordnung trat im Juli 2013 in Kraft und legt fest, dass für die Durchführung von Asylverfahren jener europäischer Mitgliedstaat zuständig ist, den ein Antragsteller zuerst betreten hat.

Rechtlich ist eine einseitige Aufkündigung der Verordnung nicht vorgesehen. "Diese Möglichkeit gibt es einfach nicht", sagt Verica Trstenjak, Professorin für Europarecht an der Universität Wien. "Das wäre so, als ob Tirol sagen würde, wir respektieren die österreichische Steuergesetze nicht mehr." Die Dublin-III-Verordnung ist für alle EU-Mitgliedstaaten bindend. Trstenjak sieht neben einem Vertragsverletzungsverfahren, wie es nun Österreich von der EU-Kommission verlangt, kaum eine Möglichkeit gegen diese Entscheidung Ungarns rechtlich vorzugehen. Dieses Prozedere nimmt allerdings sehr viel Zeit in Anspruch und führt zuerst lediglich zu einem sogenannten Feststellungsurteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) in Luxemburg. Dieses Urteil stellt – wie der Name schon sagt – nur fest, dass Unionsrecht verletzt wurde. Erst in einem zweiten Prozess, könnte der EuGH dann auch Strafzahlungen verhängen. Insgesamt könnte dieser Rechtsweg mehr als fünf Jahre in Anspruch nehmen.

Eventuell könnte rechtlich auch nach Artikel 7 des EU-Vertrages gegen Ungarn vorgegangen werden. Damit könnten bestimmte Mitgliedschaftsrechte, beispielsweise das Stimmrecht im Rat, suspendiert werden, wenn die Grundwerte der Europäischen Union, die in Artikel 2 des EU-Vertrages festgeschrieben sind, verletzt wurden. Diese Möglichkeit wurde aber bisher noch nie genutzt.

Ablenkung von innenpolitischen Themen

Noch ist unklar, wie genau die Maßnahmen aussehen, die von der Regierung Orban nun bezüglich der Dublin-III-Verordnung ergriffen wurden. Marie-Pierre Granger, Juristin, Politikwissenschafterin und derzeit Assistenzprofessorin an der Central European University in Budapest, will aber nicht ausschließen, dass mit der Vorgehensweise auch von innenpolitischen Themen abgelenkt werden soll. "Solange über Asylsuchende geredet wird, gehen Themen wie die wirtschaftliche Situation, die hohe Arbeitslosenquote oder Probleme im Bildungs- und Gesundheitssystem unter", sagt Granger. Die Anzahl der Asysuchenden in Ungarn sei zwar tatsächlich massiv angestiegen, allerdings würden tatsächlich nur wenige Personen im Land bleiben. Der ungarische Vorstoß könnte auch als Agenda-Setting für den am Donnerstag und Freitag anstehenden EU-Gipfel interpretiert werden. Dort wird es erneut um den Plan der EU-Kommission gehen, eine Quote zur Aufteilung von Flüchtlingen auf die einzelnen EU-Staaten einzuführen. Bisher ist die Kommission mit diesem Vorschlag gescheitert.

Ungehinderte Weiterreise

"Die Ungarn haben kaum rechtlich korrekte Möglichkeiten, der Situation von erwartet 120.000 Flüchtlingen allein in diesem Jahr gegenzusteuern", stellt Michael Anderheiden, Jurist und Professor an der Andrássy Universität in Budapest, fest. Eine Möglichkeit wäre, Flüchtlinge unkontrolliert weiterreisen zu lassen – etwa auch nach Österreich. Anderheiden: "Dann befände sich Österreich in der Situation, in der Ungarn jetzt ist, solange die Flüchtlinge in Österreich beharrlich über ihren Reiseweg schweigen."

Mikl-Leitner: Frontex nach Ungarn

In einem Telefongespräch mit Szijjártó am Dienstagabend hatte Kurz erklärt, dass das Vorgehen Ungarns "negative Auswirkungen" haben werde. "Das kann Österreich nicht tolerieren", so Kurz in dem Telefonat laut Außenministerium. Kurz forderte zudem, dass die EU-Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren einleite.

Auch Innenministerin Johanna Mikl-Leitner (ÖVP) forderte Konsequenzen seitens der EU-Kommission. Überstellungen müssten wieder möglich gemacht werden. Gegebenenfalls müsse die Union Ungarn mit Personal etwa von der Grenzschutzagentur Frontex zu Hilfe kommen. Die Ministerin geht davon aus, dass Ungarn seine Entscheidung in den nächsten Tagen zurücknimmt. Ändere Budapest trotzdem seine Haltung nicht, sei ein Vertragsverletzungsverfahren einzuleiten.

An ihrer Entscheidung, im österreichischen Flüchtlingswesen prioritär Dublin-Fälle abzuarbeiten, also jene Anträge, wo andere europäische Länder für das Verfahren zuständig sind, hält Mikl-Leitner fest, auch wenn keine Überstellungen nach Ungarn möglich seien. Die Ministerin ist überzeugt, dass sich das Problem innerhalb weniger Tage gelöst haben wird.

Zuvor hieß es, der ungarische Premier Viktor Orbán habe einseitig die Dublin-III-Verordnung suspendiert. Das würde bedeuten, dass Ungarn fortan keine Asylwerber mehr zurücknehmen wird, die über die ungarische Grenze in die EU gekommen sind und danach in andere Mitgliedstaaten weitergezogen sind. Das berichtete die "Presse" online am Dienstag.

Verfahren gegen Ungarn prüfen

Österreichs Innen- und Außenministerium haben die EU-Kommission daher am Dienstag aufgefordert, ein Vertragsverletzungsverfahren zu prüfen. Zuvor hatte die EU-Kommission Ungarn aufgefordert, zur aktuellen Entscheidung Stellung zu nehmen. Ein solcher Schritt sei in den gemeinsamen Asyl-Regeln der EU nicht vorgesehen, hieß es laut der Nachrichtenagentur Reuters am Dienstagabend von der Brüsseler Behörde. Brüssel fordert eine Antwort darüber, was getan wird, um die Frage zu lösen.

Steigende Asylanträge in Ungarn

Die Zahl der Asylanträge innerhalb eines Jahres ist in Ungarn um 1.236 Prozent gestiegen. das ist ein höherer Anstieg als dem EU-Schnitt entspricht. Das geht aus den jüngsten Daten der EU-Statistikbehörde Eurostat hervor. Demnach wurden in dem Land – im heurigen 1. Quartal 32.810 Anträge gestellt. Im selben Zeitraum des Vorjahres waren es noch 2.455 Anträge gewesen. Allerdings zieht ein Großteil der Asylwerber, die in Ungarn einen Asylantrag stellen, bald darauf weiter in Richtung Westen und Norden.

Deutliche Steigerungsraten

Auch gegenüber jenen EU-Staaten, die eine überdurchschnittliche Steigerungsrate aufwiesen, hebt sich Ungarns Anstieg mit deutlichem Abstand ab: Österreich und Portugal verzeichneten den zweithöchsten Anstieg – mit je einem Plus von 180 Prozent. Dies bedeutet dennoch eine fast siebenmal niedrigere Steigerungsrate als jene in Ungarn. In Österreich hatten im ersten Quartal des Vorjahres 3.470 Personen erstmalig einen Asylantrag gestellt, die Zahl stieg im ersten Quartal 2015 auf 9.710 Anträge.

Auch bei den Asylanträgen pro 1 Million Einwohner liegt Ungarn mit 7.245 gleich hinter Schweden (7.765) auf Platz zwei. Dahinter folgt dann mit einigem Abstand Österreich: Im ersten Quartal gab es hier pro 1 Million Einwohner 3.750 Anträge. Auch in Malta (3.390) und in Deutschland (2.635) war die Zahl der Anträge pro Kopf vergleichsweise hoch. Im EU-Schnitt lag dieser Wert bei 365 Anträgen.

Laut Innenministerium in Wien hat es von Jänner bis Ende Mai aus Österreich 620 Dublin-Überstellungen in andere Länder gegeben. Wie viele davon nach Ungarn gingen, wird noch recherchiert. Der EU-Gipfel am Donnerstag und Freitag wird über eine mögliche Umverteilung von Flüchtlingen in Europa beraten. (APA, bri, spri, sterk, mka, 24.6.215)