Eines kann man dem ungarischen Premierminister Viktor Orbán nicht vorwerfen, nämlich nicht konsequent zu sein. Seit seinem Machtantritt beweist er immer wieder aufs Neue, wie man mit einer Mischung aus Pragmatismus, Populismus und Nationalismus einen autoritären Kurs mitten in der EU verfolgen kann, der als "illiberale Demokratie" rhetorisch beschönigt wird. Abbau der Medienfreiheiten, Ausbau der politischen Kontrolle über die Justiz, aggressive nationalistische Blut-und-Boden-Rhetorik gegen Nachbarn – all das fügt sich ins Bild eines sich hinter Prozeduren der Demokratie versteckenden Autokraten. Die EU ermahnt, beschwichtigt ein wenig, geht aber bald wieder zur Tagesordnung über. Oder scherzt, so wie unlängst der Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, der seinen Freund Orbán verbunden mit einem kumpelhaften Schulterklopfer "Diktator" nannte.
Nun geht Orbán einen Schritt weiter und testet Europa wie kaum je zuvor. Mit dem vorgeschlagenen Bau eines Zauns, um die EU-Außengrenze zu Serbien zu sichern, greift er auf die Ideen von László Toroczkai zurück, einem Neonazi, der 2014 für die rechtsextreme Jobbik-Partei Bürgermeister in einem ungarischen Dorf unweit der serbischen Grenze wurde. 26 Jahre nach dem symbolhaften Durchschneiden des Eisernen Vorhangs durch den damaligen Außenminister Gyula Horn kehrt die Mauer zurück und begräbt die Idee eines offenen europäischen Kontinents des Friedens. Der vier Meter hohe Metallzaun soll die Flüchtlingsströme, wie jenen der Kosovo-Albaner zu Beginn des Jahres, aufhalten oder jedenfalls umlenken. Kroatien macht sich bereits Sorgen, dass das jüngste Mitgliedsland der EU zur neuen Route werden könnte.
Zäune kommen einer Kapitulation Europas gleich. Sie sind eingestandenes Unvermögen, menschliche Lösungen für die Migrationsströme zu finden. Würde man zu einem Konsens bei der Verteilung der Flüchtlinge kommen, zu einer gemeinsamen europäischen Formel, könnte man als reichste Gemeinschaft der Welt eine humane Lösung finden, die den Wind aus den Segeln rechter Populisten und Nationalisten in der EU nehmen würde.
Die EU igelt sich stattdessen ein, umgibt sich mit realen oder geistigen Mauern, möchte die Insel der Seligen sein, die in einer globalen Welt reine Utopie ist. Seligkeit muss man sich erarbeiten – mit globalem finanziellem Engagement in Krisenherden; mit konsequenter Außenpolitik, die globale Allianzen schmiedet und die Diktatoren und Schlächter dieser Welt konsequent bekämpft; mit kreativen Migrationskonzepten; und letztlich mit Menschlichkeit, die Europa schon so oft bewiesen hat, das letzte Mal in den Jugoslawienkriegen, als man allein in Österreich 90.000 bosnische Kriegsflüchtlinge mit einem De-facto-Flüchtlingsstatus aufnahm.
Der deutsche Soziologe Hauke Brunkhorst hat unlängst anschaulich die beiden vorherrschenden Logiken innerhalb Europas und der EU beschrieben. Einerseits ist es die technokratische Logik der Verwaltung, die in den letzten Jahrzehnten schon zum Kern der Stabilität und Verlässlichkeit des europäischen Projekts geworden ist. Auf der anderen Seite ist es die emanzipatorische Logik, ohne die es die EU in dieser Form nie geben würde. Die Befreiung der Gesellschaften vom stumpfen Nationalismus des Zweiten Weltkrieges, die Arbeit an einer emanzipierten demokratischen Wertegemeinschaft, in der die Achtung der Grund- und Menschenrechte, die Würde jedes Einzelnen im Mittelpunkt steht, ist jenes Gesicht, das Europa zu einer einmaligen demokratischen Gemeinschaft gemacht hat. Das technokratische Gesicht Europas versagt in der Migrationspolitik kläglich. Das emanzipatorische Gesicht suchen wir in dieser Debatte vergeblich. Die Flüchtlinge sind bloße Ziffern und ein Übel, das man in eigenen Grenzen nicht haben will und daher bekämpft. Mauern sind das Sinnbild des Unvermögens Europas, auf neue Herausforderungen gemeinschaftlich zu reagieren.
In einem seiner vielen Essays über die Zukunft Europas warnte der zu früh verstorbene Tony Judt 1996 vor Entwicklungen, die wir heute erleben. Die Brisanz der Migrationspolitik wird, schrieb er, nicht so bald nachlassen. Europa wird immer mehr an einer tiefen Kluft zwischen Verlierern und Gewinnern der Jetztzeit laborieren. Und die Verlierer werden es sein, so Judt, die sich einem radikalen Nationalismus hingeben werden. Wie die angeblich so besorgten politischen Leader vom Zuschnitt Orbáns, Le Pens oder Straches dem neuen Nationalismus frönen, Menschen gegeneinander ausspielen und politisch ihre Anhängerschaft vergrößern, macht Angst. Das scheint der neue Wahnsinn zu sein, der um sich greift und sich in Europa als Normalität und Pragmatismus tarnt. Bleibt der Wahn unbeantwortet, setzt er sich fest, breitet sich aus und kann Europa als demokratische Wertegemeinschaft in den Ruin treiben. (Vedran Dzihic, 23.6.2015)