Als der Marokkaner Hicham Boutalant Anfang Juni in seiner Heimatstadt Sidi Ifni die richterliche Vorladung bekam, war ihm klar, er würde aussagen. Das Gericht in Arrecife, der Hauptstadt der spanischen Kanareninsel Lanzarote, will von ihm wissen, was er in der Nacht auf den 13. Dezember 2012 auf dem Atlantik erlebt hat.

Boutalant gehörte zu 25 marokkanischen Insassen eines kleinen, offenen Fischerboots, das von Sidi Ifni an Marokkos Atlantikküste aus auf dem Weg zu der 350 Kilometer entfernten Insel war.

Tote und Verschwundene

Kurz vor der Ankunft auf Lanzarote wurde das Flüchtlingsboot von einem Patrouillenschiff der Guardia Civil aufgebracht, verfolgt und schließlich gerammt. 18 Insassen wurden gerettet, eine Leiche wurde aus dem Meer gezogen, sechs Personen verschwanden für immer in den Wellen des Atlantiks. Die Vernehmung Boutalants ist für den 16. Juli angesetzt. Der junge Mann kam am 20. Juni auf Lanzarote an. Einmal mehr im Flüchtlingsboot.

"Es ist das vierte Mal, dass ich so übersetzte", erklärt er gegenüber der spanischen Presse per Handy aus der Abschiebehaft, in die er kam, kaum hatte er den Strand der Insel betreten. "Du weißt nie, ob du lebend ankommst oder stirbst", fügt er hinzu. Doch das Leben zu Hause sei unerträglich. Es gebe einfach keine Arbeit. "Ich bin bereit, jeden Job anzunehmen", sagt er und berichtet, dass einer seiner Brüder auf den Kanaren lebt, ein zweiter in Frankreich.

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Bereits nach jener tragischen Nacht auf dem Atlantik im Jahr 2012 kam Boutalant in die gleiche Abschiebeanstalt, in der er auch jetzt wieder sitzt. Zusammen mit zehn weiteren Überlebenden forderte er damals – unterstützt von mehreren NGOs –, bleiben zu dürfen, bis die Richter geklärt hätten, wie es zu dem Zusammenstoß kam. Für Boutalant und die Seinen war es kein Unfall, sondern geschah mit voller Absicht.

Das Patrouillenschiff hatte das Flüchtlingsboot im Lichtkegel eines Suchscheinwerfers. Am Bug hielt ein Polizeibeamter Ausschau, trotzdem kam es zu dem Zusammenstoß. Ein Video aus dem System zur Überwachung der Südgrenze der EU, Sive, das von einem spanischen Radiosender veröffentlicht wurde, bestätigt die Angaben Boutalants.

Keine Anzeigenbearbeitung

Eine Anzeige gegen die Besatzung beim obersten spanischen Strafgerichtshof, der Audiencia Nacional, wurde bis heute, mehr als zweieinhalb Jahre danach, nicht bearbeitet. Der vom Richter bei der Guardia Civil angeforderte Bericht steht weiterhin aus.

Um seine Sicht der Dinge endlich vor einem Richter erzählen zu können, hat Boutalant die gefährliche Überfahrt erneut auf sich genommen, und das, obwohl es bei dem Verfahren in Arrecife nicht um die Verantwortung der Guardia Civil geht.

Überlebende als Schlepper angeklagt

Das Gericht urteilt über drei der Überlebenden. Sie sind als Verantwortliche des versenkten Flüchtlingsboots und damit als Schlepper angeklagt. "Unschuldig" sind sie für Boutalant. Sie seien – wie er – einfache Flüchtlinge aus Sidi Ifni gewesen. Der Kapitän des Bootes sei unter den Verschwundenen. Die spanische NGO SOS Racismo fordert, dass Boutalant nicht abgeschoben wird, bevor er aussagen kann.

Selbst wenn er bleiben darf, ist es mehr als fraglich, ob es überhaupt zum Verhör kommt. Denn mittlerweile versucht die Staatsanwaltschaft mit den als Schlepper angeklagten einen Deal auszuhandeln. Falls sie sich freiwillig für schuldig erklären, wird das Verfahren eingestellt und die Strafe vermindert. Boutalant käme nicht zu Wort, die Besatzung jenes Patrouillenboots wäre weiterhin fein aus dem Schneider. (Reiner Wandler, 1.7.2015)