Schlafplatz in einer alten Kathedrale im nigerianischen Yola. Im Camp Sankt Theresa leben etwa 300 Binnenflüchtlinge.

In der Stadt Hong, die im Norden des nigerianischen Bundesstaates Adamawa liegt, sind die Spuren der Terrormiliz Boko Haram noch allgegenwärtig, auch wenn die Besatzung schon viele Monate zurückliegt. Doch an der Durchgangsstraße, die die Provinzhauptstädte Yola und Maiduguri verbindet, hat sich niemand die Mühe gemacht, die ausgebrannten Häuser wieder aufzubauen. Die Türen der kleinen Geschäfte sind mit Brettern vernagelt. Arabische Schriftzeichen prangen an Häusern, Hinweisschilder sind übermalt. Spuren der mittlerweile abgezogenen Kämpfer. Niemand weiß, wo sie ihre Sprengsätze versteckt haben. Für spielende Kinder kann das zur tödlichen Gefahr werden. Trotzdem wollen die meisten Binnenflüchtlinge lieber heute als morgen zurück.

Als die Terroristen ab September 2014 immer weiter Richtung Süden marschierten, retteten sich Zehntausende in die Provinzhauptstadt Yola und lebten monatelang in großen Flüchtlingscamps. Insgesamt haben mehr als 1,5 Millionen Menschen den Nordosten Nigerias verlassen. Wie viele bereits in ihre Heimatdörfer zurückgekehrt sind, ist unklar. John Yakubu beneidet sie manchmal. Der Mann, der langsam graue Haare bekommt und tränende Augen hat, lebt im Camp von Sankt Theresa, das die katholische Kirche in Yola betreibt. Rund um die Kathedrale sind heute noch knapp 300 Binnenflüchtlinge untergebracht. Yakubu gehört zu den wenigen Männern.

Sytematische Tötungen

Zuerst waren es nur Gerüchte, doch Augenzeugen haben es längst bestätigt: Als die Terrorgruppe die Dörfer und Kleinstädte überfiel, versuchten deren Kämpfer, Frauen und Kinder in ihre Quartiere im Sambisa-Wald zu bringen. Viele Männer wurden systematisch umgebracht. Häufig wurden ihnen in aller Öffentlichkeit die Kehlen durchgeschnitten. Yakubu hatte Glück. Als zwei Terroristen, die Soldatenuniformen trugen, auf der Flucht sein Auto stoppten, sagte er ihnen: "Die Armee hat die Region längst verlassen. Wenn ihr wollt, dann bringt mich jetzt um." Wie durch ein Wunder ließen sie ihn laufen. Beim Erzählen hat er sich auf den Boden gehockt und schaut in den Himmel. Noch ist dieser strahlend blau, doch bald wird der Regen einsetzen.

"Eigentlich geht es mir gut hier", sagt Yakubu auf Haussa, der größten Verkehrssprache des Nordens, "doch mir fehlt die Arbeit". Er ist Farmer und blickt deshalb immer wieder prüfend gen Himmel. Längst hätte er seine Felder vorbereiten müssen, da er doch schon eine Ernte verloren hat. Doch sein Heimatdorf gilt bis heute als viel zu gefährlich. In den vergangenen Monaten hat Priester Maurice Kwairanga, Direktor der Camps, schon viele Menschen gehen und wiederkommen sehen. In seinem Büro besuchen ihn täglich Flüchtlinge. Rückkehrer berichten, dass es neben den fehlenden Nahrungsmitteln keine gesundheitliche Versorgung mehr gibt; nicht einmal Schmerzmittel lassen sich kaufen. "Am schlimmsten aber ist es zu sehen, wie traumatisiert die Menschen sind. Sie sind depressiv, wütend, glauben nicht mehr an die Zukunft", sagt der Geistliche. Viele hätten ihre komplette Lebensgrundlage verloren, andere verweste Leichen auf ihren Grundstücken gefunden.

Keine Unterstützung vom Staat

Doch die Kirche hat keine Psychologen und vom Staat gibt es keine Unterstützung. Die Mitarbeiter der staatlichen Nothilfeagentur Nema würden lieber reden als handeln, kritisiert Kwairanga. Den Menschen bleibt indes nur eine Lösung. Sie müssen abwarten und selbst entscheiden, wann der Tag der Rückkehr gekommen ist. Das macht auch John Yakubu. Ihn tröstet eins: "Meine Familie ist in Gombe. Ich weiß, dass es ihr gut geht." Zehntausende andere wissen nicht einmal, wo Kinder, Väter, Mütter oder Großeltern sind. (Katrin Gänsler, 2.7.2015)