Klare, aber entschärfte Bilder: Bei der "Entführung" musste Regisseur Martin Kusej auf drastische Ideen verzichten und protestierte.

Foto: Pascal Victor

Diesmal war der Festspielauftakt nicht (wie im Vorjahr) durch lautstark ausgetragene Arbeitskämpfe oder Boykottdrohungen des technischen Personals gefährdet. Eine Verstimmung gab es aber doch, und das ausgerechnet vor der Entführung aus dem Serail, für die man Regisseur Martin Kusej geholt hatte: Intendant Bernard Foccroulle wollte keine Bilder riskieren, die zu deutlich an die Enthauptung von Lyon erinnerten, von der man in Frankreich immer noch schockiert ist.

Also warf der auf seine barbarischen Folter- und Mordrituale versessene Osmin, der die 'dekadente' Toleranz nicht mitmacht, mit der Selim Bassa (Tobias Moretti) seine Gefangenen beschämender Großmut entkommen lassen wollte, nicht die Köpfe der enthaupteten Europäer vor die Füße. Es wurden "nur" ihre blutverschmierten Kleider. Kusej gab grollend seinen Protest gegen diesen Eingriff zu Protokoll, blieb aber zum recht mauen Schlussapplaus dennoch. Wirklich gerettet hätte dieses drastische Schlussbild seine konventionelle Inszenierung allerdings nicht.

Weder die Bemühungen des schon öfter bei seinen Operntexten überschätzen Albert Ostermaier um eine Modernisierung der Dialoge noch die Postierung eines Beduinenzeltes in einer Bühnenwüste im Théâtre de l'Archevéché führten wirklich aus dem Sandkasten, in den sich die Europäer mit der komplett falschen Kleidung und immer barfuß verirrt hatten. All dies führt nicht zu einer metaphorischen Wüste des latenten Grauens, die Kus ej wohl im Sinne hatte.

Mattes Orchester

Zwar taten Daniel Behle (Belmonte), Franz Josef Selig (Osmin) und auch Jane Archibald (Konstanze) und Rachele Gilmore (Blonde) ihr Möglichstes. Doch konnte das den matten Eindruck, den das Freiburger Barockorchester unter Jérémie Rhorer hinterließ, nicht überdecken. Dieses aktuelle Orchester in Residenz war auch der Schwachpunkt bei der ersten, allerdings szenisch und vokal höchst überzeugenden Premiere von Händels Alcina im Grand Théâtre de Provence.

Hier war Counter Philippe Jaroussky als Ruggiero der Liebhaber, den sich die Alcina (Patricia Petibon) ausgesucht hatte. Und der ist auf seine verführerisch charmante Weise eine Klasse für sich. Seine einfühlsame Art zu singen passte haargenau zu dem Liebhaber, den Regisseurin Katie Mitchell in dem Geisterhaus braucht, das sie aus Alcinas Zauberinsel gemacht hat. Dort sind sie und ihre Schwester Morgana (Anna Prohaska) eigentlich schon ziemlich alt und werden nur dann immer wieder jung und sexy, wenn sie den Luxussalon mit dem Riesenbett im Zentrum der Bühne betreten. Beim Gang durch die Türen tauschen die alten Schauspielerinnen und die attraktiven Sängerinnen jedes Mal die Gestalt. Was ziemlich gut funktioniert und das Nachdenken übers unausweichliche Altwerden und seine Nebenwirkungen in Sachen sexueller Attraktivität und den verzweifelten Kampf gegen das Entschwinden der Jugend wachhält.

Diverse Gelüste

Sie frönen jedenfalls ihren diversen Gelüsten, inklusive Sadomaso-Praktiken so, dass es den biederen Eindringlingen und einem Teil des Publikums die Schamröte ins Gesicht treibt. Am Ende stellen die Jungen die beiden Alten in Glasvitrinen zur Schau. Fragt sich, ob das im prüden Russland (das Bolschoi firmiert als Koproduzent) auch mit dem grinsenden Schulterzucken über die Bühne gehen kann, wie in Südfrankreich. Dass Peter Sellars mit dem Doppelabend von Tschaikowskys Iolante (um die sich Anna Netrebko ins Salzburg ja ziemlich verdient gemacht hatte) und Strawinskis Perséphone eher kunstgewerbliches Zelebrieren abliefern würde, war zu erwarten. Immerhin überzeugten Theodor Currentzis am Pult des Orchesters der Oper in Lyon und die Solisten.

Es ist ein Vorzug dieser Festspiele, dass sie Repertoire aufbauen. Die besten Inszenierungen kommen wieder nach Südfrankreich zurück, wenn sie durch die Welt getourt sind. So war denn die Wiederbegegnung mit der taufrisch wirkenden legendären Robert Carsen Inszenierung von Brittens A Midsummer Night's Dream das pure Festspielvergnügen. (Joachim Lange aus Aix-en-Provence, 6.7.2015)