Es ist kurz vor Weihnachten des Jahres 1847 und Alexander von Humboldt, knapp 80 Jahre alt und mit griesgrämiger, fast resignierter Miene, sitzt in seiner Berliner Prunkwohnung. Grau in Grau zeigen sich Parkett und Flügeltüren ebenso wie die Bücherregale und Globen, zwischen denen der große Naturforscher sitzt. Einzig ein Gemälde – offenbar von einem der Vulkane in Ecuador, die Humboldt in früheren Zeiten bestiegen hatte – scheint wie ein helles Fenster in eine glorreiche Vergangenheit.

Gerade denkt er mit Widerwillen daran, am Abend dem festlichen Diner der Akademie der Wissenschaften vorsitzen zu müssen – eine "Gesellschaft alter Knacker", wie er sie bezeichnet. Da tritt eine junge Frau ein. Luisa Amadilla ist die Tochter eines guten Freundes von Aimé Bonpland, dem in Kolumbien verschollenen Reisebegleiter Humboldts.

Sie bringt Humboldt Bonplands Notizheft, das über dessen letzte Expedition Auskunft gibt. Und von dem Moment an, als Humboldt das Büchlein aufschlägt, begeben wir uns auf eine fantastische Reise, die die Leser ganz genauso in den Bann zieht wie Humboldt selbst. Es ist "Humboldts letzte Reise", so der Titel der grandiosen Graphic Novel der Franzosen Étienne Le Roux (Szenario) und Vincent Froissard (Zeichnungen), die auf Deutsch bei Knesebeck erschienen ist.

Froissard_Le Roux/Humboldts_letzte_Reise/Knesebeck

Achtung: Es handelt sich dabei nicht um eine Biografie oder wahre Begebenheit. Und doch lässt der Band den Geist Humboldts auf bestechende Weise wiederauferstehen.

Schon von diesen ersten Seiten an ist klar: Hier hat man es mit höchster Comickunst zu tun. Das Berliner Grau wechselt zu einem vergilbten Braun, und es tut sich eine riesige alte Mine inmitten des Dschungels auf. Großformatige Bilder wechseln mit filmreifen Panoramaansichten und kleinteiligen Kastln. Schematische Darstellungen von undefinierbaren Organismen, entomologische Zeichnungen seltsamer Insekten und andere feingliedrige Illustrationen im Stil des 19. Jahrhunderts fügen sich nahtlos in die berauschenden Bilder ein.

Die Story führt Humboldt und Luise, die seine Assistentin wird, auf den Spuren von Bonplands Notizen in den Amazonas. An Humboldts Fersen wiederum heftet sich als Vertreter der Akademie der Wissenschaften Carl Ritter, dargestellt als reichlich eingebildeter Geograf und Rivale Humboldts.

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In der verborgenen Mine vermutet Humboldt einen rätselhaften Organismus, der nicht weniger als der Ursprung aller Lebensformen sein soll. Doch das ist nur ein Knoten in einem geschickt gesponnenen Netz aus Abenteuern, durch das die drei Protagonisten purzeln.

Bild und Text greifen ausgeklügelt ineinander und spannen mehrere Erzählebenen auf. Dabei wechselt die Perspektive unangekündigt zwischen den Hauptfiguren – die zusammen ein ziemlich schrulliges Trio infernale bilden. Die drei und eine ganze Entourage weiterer Figuren (traum)wandeln durch rauschhafte, fiebrige Szenerien. Die wunderschönen Zeichnungen wirken einmal wie Ölgemälde, dann wieder wie japanische Farbholzschnitte.

Man glaubt förmlich, die Vögel aus den Bildern herausschreien zu hören, das Flirren der Insekten zu hören, die feuchte Luft in den Knochen zu spüren, die ein ständiges Bildrauschen verursacht. Ganze Sequenzen verschwinden hinter einem Regenvorhang oder verschwimmen wie hinter einem Milchglas, Traumszenen wirken hingegen sonderbar klar. Erdige, schlammige Farben wechseln mit einem harten Stahlblau.

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Wir lernen Alexander von Humboldt zwar auch als den genialen Wissenschafter kennen, vor allem aber als einen eigenbrötlerischen, geistreichen und auch humorvollen Kauz, der doch immer wieder allen ein Schnippchen schlägt. Zwischendurch wird über Evolution, Anpassung und die Vielfalt der Arten schwadroniert, doch letztlich ist es die Absurdität dahinter, das Groteske, das sich in den vergessenen Winkeln der Welt genauso wie im Inneren jedes Einzelnen immer wieder durchsetzt, das "Humboldts letzte Reise" hervorkehrt. Die Geschichte scheint uns sagen zu wollen, dass all die exakte Wissenschaft nur durch eine gute Portion Fantasie und halsbrecherische Entdeckerlust möglich ist.

Die Anleihen an "Alice im Wunderland", Jules Vernes Abenteuerromane oder Windsor McKays "Little Nemo" sind durchaus stimmig, auch an das Filmuniversum Tim Burtons und nicht zuletzt Daniel Kehlmanns "Vermessung der Welt" erinnert man sich – und doch ist dieser anspruchsvolle Band auf jeden Fall einmalig. (Karin Krichmayr, 14.7.2015)

Vincent Froissard und Étienne Le Roux
"Humboldts letzte Reise"
Knesebeck 2015
160 Seiten, 25,70 Euro

Leseprobe
Book2look: Vincent Froissard, Étienne Le Roux: Humboldts letzte Reise