Neu-Delhi – Anil Rai fürchtet, er könne der nächste Name auf der langen Todesliste sein. Denn der Menschenrechtsaktivist half dabei, einen der größten Betrugsskandale in der Geschichte Indiens aufzudecken, der den Subkontinent seit Tagen in Atem hält – und mit dem immer mehr mysteriöse Todesfälle in Verbindung gebracht werden.

"Ein Mann rief mich an und warnte mich", erinnert sich Rai. "Er sagte, es gebe wegen mir zu viel Berichterstattung in den Medien. Wenn das so weitergehe, werde er mich umlegen lassen." Rai ist einer der Informanten, die Korruption bei Bewerbungstests für medizinische Hochschulen im zentralindischen Bundesstaat Madhya Pradesh bekannt machten. Nun ist Bestechung in Indien nichts Ungewöhnliches. Aber hier sind die Ausmaße besonders gewaltig: Laut den Ermittlern wurde mindestens sechs Jahre lang im großen Stil betrogen. Fast 2.000 Menschen wurden bisher angeklagt, Hunderte Menschen verhaftet, nach rund 500 Verdächtigen wird noch gesucht.

Verkehrsunfälle, Selbstmorde, Vergiftungen, Verbrennungen

Der Betrug lief so: Testkandidaten heuerten Absolventen an, die statt ihnen die Prüfung schrieben. Oder sie bezahlten gute Medizinstudenten, in Blickweite neben ihnen zu sitzen. Andere ließen sich die Frage- oder Antwortbögen vorher zustecken oder gaben den Korrektoren gleich direkt Geld, damit sie ihnen bessere Noten geben. Eine Aufnahme in die Hochschule soll bis zu 140.000 Euro gekostet haben. Abgehalten wurden die Tests von einer Behörde mit der Hindi-Abkürzung Vyapam – weswegen Indien vom Vyapam-Skandal spricht.

Dicke Schlagzeilen machte der Skandal aber erst, als im Zusammenhang damit immer mehr Tote auftauchten: Verkehrsunfälle, Selbstmorde, Vergiftungen, Verbrennungen, Organversagen. Ein Journalist etwa, der in dem Fall recherchierte, starb plötzlich an einem Herzinfarkt. Ein involvierter Professor lag tot in seinem Hotelzimmer. Eine in dem Fall angeklagte Studentin soll sich vor einen Zug geworfen haben. Der Autopsiebericht sei aber ausgetauscht worden, berichteten lokale Medien. Eigentlich sei die junge Frau stranguliert worden.

40 Todesfälle

Die Polizei spricht von 23 Toten. Indische Medien zählen etwa 40 Todesfälle. Unter ihnen ist auch der 50-jährige Sohn des Gouverneurs von Madhya Pradesh, der im März plötzlich tot aufgefunden wurde. Kein Zufall, sagen die Aktivisten, die Aufklärung in dem Mega-Skandal fordern. Sie vermuten schon lange, dass ranghohe Politiker und Beamte darin verwickelt sind. Tatsächlich hat die Special Task Force, die in dem Fall ermittelt, gegen einen früheren Bildungsminister, Vyapam-Beamte, Regierungsvertraute und Polizisten Verfahren eingeleitet.

Doch der Innenminister von Madhya Pradesh will keine mysteriösen Todesfälle erkennen. "Die meisten dieser Tode sind natürlich. Die Medien schaffen einen Hype", sagte Babulal Gaur. Die Informanten seien in Wirklichkeit von der Oppositionspartei beauftragt worden. Der Whistleblower Rai hingegen meint: "Die Hintermänner sind noch immer auf freiem Fuß."

Indiens höchstes Gericht hatte nun genug und entzog dem Bundesstaat die Zuständigkeit. Ab Montag soll sich das Central Bureau of Investigation – quasi Indiens FBI – um den Betrug und die Todesfälle kümmern. Der forensische Experte und Whistleblower Prashant Pandey ist froh darüber. "Es war allerhöchste Zeit, dass ein unabhängiger Dritter ins Spiel kommt, der von der Landesregierung unabhängig ist", sagt er. Sicher fühlt er sich – genauso wie Rai – trotzdem nicht. Da hilft es auch nicht, dass ihm zum Schutz nun immer ein Polizist folgt, wenn er mit seinem Fahrrad durch die Stadt fährt. (dpa, 10.7.2015)