Im Satiremagazin reifte die Erkenntnis, dass man im politischen Streit auch instrumentalisiert wurde. Daher vorerst kein Mohammed, aber immer noch scharf – gegen Islamophobie und gegen Salafisten.ANDAR

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Die berühmt gewordene Parole erntete auch viel Kritik – nicht nur von Muslimen, auch – wie hier in London – von Juden.

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Aktuelles Cover mit Hollande und Merkel beim Sirtaki, dem heurigen Sommertanz.

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Die ehemalige Redaktion ist längst verwaist, der öffentliche "Altar" für die Opfer des Attentats wurde kürzlich abgebaut.

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Chefredakteur "Riss" zeigte das Mohammed-Cover nach den Anschlägen.

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Paris – In der Allée Verte des lebhaften elften Pariser Stadtbezirks, gleich hinter dem pulsierenden Boulevard, herrscht Dorfstille. Friedhofsstille. Hier starben am 7. Jänner dieses Jahres elf Mitglieder aus dem Umfeld der Charlie Hebdo-Redaktion. Jetzt dringen friedliche Flötenklänge auf die Straße. Das "Mausoleum", wie das spontan entstandene Denkmal von Kerzen, Kränzen und "Je suis Charlie"-Inschriften genannt wurde, ist kürzlich abgebaut worden. Die Journalisten des Satireblattes sind ohnehin längst weg, provisorisch in die befreundete Redaktion der Zeitung Libération umgezogen. "Ist besser so", meint eine junge Frau bei ihrer Rauchpause, auf die gegenüberliegende Kinderkrippe verweisend. Ständig schielt sie dabei auf die Umhängetasche des Fremden. Man weiß ja nie.

Der schwerbewaffnete und schwitzende Polizist am Straßeneck fragt sich indes, was er eigentlich noch bewacht. Das Attentat liegt weit zurück, wirkt hier schon fast nicht mehr wirklich. Unwirsch zeigt eine Passantin mit Hund auf die Stelle, wo die beiden Kouachi-Brüder den Wachmann brutal abgeknallt hatten.

Beim "Hyper Cacher" am östlichen Stadtrand von Paris patrouillieren noch zwei Flics. Der jüdische Laden hat im März wieder geöffnet. Der Geschäftsführer, wortkarg, will nicht einmal sagen, warum der malische Angestellte, der an jenem schwarzen Freitag mehrere Kunden ins Untergeschoß gerettet hatte, nicht mehr im Laden arbeitet. Lassana Bathily arbeitet heute für die städtischen Betriebe und wohnt weiterhin in einem 14-Quadratmeter-Zimmer.

Geschichte oder Gegenwart

Vor dem Eingang sind nur noch ganz wenige Relikte des früher 50 Meter langen Blumen- und Kranzteppichs zu sehen. Genug, um die dramatischen Bilder der Geiselnahme und des Polizeisturms zurückzurufen.

Das Gefühl schwankt: Ist hier ein Ort der Geschichte – oder brennende Aktualität? Die fast schon militärische Bewachung der nahen Synagoge gibt die Antwort: Hier ist Gegenwart. Wer eine Kippa trägt, geht etwas schneller. Und die überlebenden "Charlie"-Macher geben bei der Place de la République jeden Mittwoch eine neue Ausgabe ihres Satireblattes heraus. Die kurzfristige Millionenauflage von Jänner sinkt wieder auf überschaubare Ausmaße. Der Inhalt klingt weniger unverschämt, weniger "hau drauf".

Jede Ausgabe ohne Charb, Cabu, Wolinski und alle anderen sei eine Tortur, sagen die Überlebenden, "les survivants". Interne Spannungen sind aufgebrochen. Eine Entlassung wurde rückgängig gemacht. Charbs Familie prozessiert gegen die ehemalige Sarkozy-Ministerin Jeanine Bougrab, die behauptet, sie sei die letzte Freundin des ermordeten Chefredaktors gewesen und verwalte seinen Nachlass.

Und dann ist da noch das "Gift der Millionen", wie die gewaltigen Spenden – bis zu 30 Millionen Euro – für die chronisch leeren Redaktionskassen intern genannt werden. Seltsamerweise gehört das Sponti-Magazin drei Beteiligten, darunter dem neuen Chefredaktor Riss. Gegen diese drei Aktionäre, die sich die Dividenden aufteilten, rief der Reporter Laurent Léger im März ein Kollektiv ins Leben, um eine breiter abgestützte Beteiligung durchzusetzen. Die Verhandlungen laufen weiterhin (siehe Interview).

Der neue Chefzeichner Luz, der auch Teil dieses Kollektivs war, erklärte unlängst, er sei es müde, Mohammed zu zeichnen. Mitte Jänner hatte er die erste, kongeniale Mohammed-Titelseite nach den Anschlägen ("Alles ist vergeben") zustande gebracht. Jetzt sucht er, wie eine Bekannte über ihn erzählt, einen "persönlichen Weg fernab der Medienwelt". Im Herbst will Luz den Griffel für Charlie ganz niederlegen.

Zu schaffen macht den Charlie-Machern auch der Vorwurf des Soziologen Emmanuel Todd, die Mohammed-Karikaturen seien unterschwellig islamfeindlich. Gemeint hat er, sie seien so "islamophob" wie die riesige Solidaritätsdemo des 11. Jänner – nach den Anschlägen, deren vier Millionen Teilnehmer vor allem Katholiken der weißen Mittelklasse gewesen seien.

Keine der zahllosen Post-Charlie-Publikationen erregte so viel Aufsehen wie Todds These. Ihre wissenschaftliche Basis ist äußerst fragwürdig. Aber sie benennt ein Kernproblem Frankreichs, die demografische Abspaltung der Banlieue-Zonen, wo kaum je "Je suis Charlie"-Parolen erschallten. Und sie stellt die Frage nach dem strikten französischen Laizismus, der für die französische Republik so konstitutiv ist wie Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit.

Mit dem Laizismus wurde unter anderem das gesetzliche Verbot des islamischen Kopftuchs in Schulen und Ämtern gerechtfertigt. Heute dient der Begriff auch als Schlagwort, wenn nicht Feigenblatt für Islam-Kritiker. Nicolas Sarkozy will darauf basierend Alternativen zu Schweinefleisch in den Schulkantinen verbieten. Front-National-Präsidentin Marine Le Pen erklärt, der französische Laizismus verlange ein Verbot von Moschee-Neubauten.

Das linke Satireblatt fühlt sich in diesem sehr politischen Spiel wohl zu Recht instrumentalisiert, eingezwängt zwischen Islamisten und Rechtspolitikern.

Einige Charlie-Macher, darunter auch Léger, gingen deshalb gar nicht auf die Demo des 11. Jänner, da sie eine politische Vereinnahmung befürchteten.

In der aktuellen Ausgabe ruft der Charlie-Chronist Jean-Yves Camus einmal mehr zu einer klaren Unterscheidung von Islam und Islamismus auf. Die Rechte leiste den Islamisten nur Vorschub: Letztere wollten einen Keil zwischen die fünf Millionen Muslime in Frankreich und die übrigen Franzosen treiben – und das Land in einen "Bürgerkrieg" entlang der religiösen Fronten stürzen.

Deshalb, so Camus, wünschten die Islamisten sogar einen Sieg Le Pens bei den nächsten Präsidentschaftswahlen, überzeugt, dass dann auch die friedlichen Muslime zu ihnen überlaufen würden.

Unausgesprochen ist das wohl mit ein Grund, dass Charlie Hebdo in letzter Zeit keine Mohammed-Karikaturen mehr veröffentlich hat: nicht aus Feigheit, wie seine Gegner sagen, sondern aus politischer Weisheit.

Niemand hat beschlossen, auf diese Zeichnungen zu verzichten. Langsam setzte sich aber die Einsicht durch, dass diese Karikaturen letztlich auch eine Falle sind: Sie geben den Islamisten einen billigen Anlass, die über die "Blasphemie" empörten Muslime auf ihre Seite zu ziehen.

Vehement gegen Salafisten

Umso vehementer karikiert Charlie Hebdo all die Salafisten, Fundamentalisten, Terroristen, Möchtegern-Jihadisten und IS-Drahtzieher, und zwar nicht erst seit den Attentaten von Jänner. In einem posthum erschienenen Buch hatte Charb vor seiner Ermordung festgehalten, das Problem sei nicht der Koran, sondern der salafistische Archaismus, der den Koran "wie eine Gebrauchsanleitung für ein Ikea-Gestell" lese, das heißt wortwörtlich in die Gegenwart übertrage.

Mitten in diese Debatte platzte Ende Juni das neue Attentat auf eine Gasfabrik bei Lyon, begleitet von der furchtbaren Enthauptung eines Transportunternehmers. Der Täter Yassin S., ein unbedarfter, jähzorniger Familienvater aus der Peripherie der Rhône-Stadt, war salafistisch indoktriniert. Mit der lokalen Moschee des Vororts Saint-Priest verband ihn nichts.

"Krieg der Zivilisationen"

Doch jetzt spricht sogar der sozialistische Premierminister Manuel Valls vorschnell von einem "Krieg der Zivilisationen". In Anlehnung an die umstrittene These Samuel Huntingtons siedelte er damit letztlich den ganzen Islam im Terrorlager an.

Charlie kommentierte, nicht zwei Kulturen lägen miteinander im Krieg, sondern "ein paar Barbaren gegen zivilisierte Bürger, ob diese nun einer Religion angehörten oder nicht". Für das Satireblatt ist klar: Wenn sich sogar die Linksregierung in Paris die neokonservative These vom Clash der Zivilisationen zu eigen macht, kommt der Abdruck neuer Mohammed-Karikaturen fürs Erste nicht infrage. (Stefan Brändle aus Paris, 12.7.2015)