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Die Gesichter einiger Getöteter, auf die Eingangstür zur ehemaligen "Charlie"-Redaktion gesprayt. Léger sagt: "Wir merken, wie sehr uns mitdenkende Köpfe fehlen."

Foto: Picturedesk

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Laurent Léger.

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STANDARD: Wie geht es Ihnen, sechs Monate nach dem Anschlag auf die Redaktion?

Léger: Wie jemandem, der immer noch nicht recht weiß, was ihm widerfahren ist. Ich bin glücklich zu leben. Zugleich bin ich oft müde, und die Absenz verstorbener Freunde ist schwierig, bisweilen unerträglich. Immer wieder kehren Bilder jenes Tages bruchstückweise zurück.

STANDARD: Auch von den Tätern mit ihren Kalaschnikows?

Léger: Ja, auch wenn ich ihre vermummten Gesichter nicht gesehen habe. Ich arbeite weiterhin sehr viel, das lenkt ab, gibt einen gewissen Halt. Viele Mitarbeiter in der Verwaltung von Charlie, von denen kaum jemand spricht, haben viel Mühe, darüber hinwegzukommen.

STANDARD: Wo steht die Redaktion heute?

Léger: Die Redaktion produziert jede Woche eine Ausgabe, das lässt kaum Zeit, über anderes nachzudenken oder sich auszuruhen. Wir merken, wie sehr uns mitdenkende Köpfe fehlen. Das gilt für die Texte wie die Zeichnungen. Wir haben Mühe, neue Karikaturisten zu finden, die auf unserer Linie liegen, und die politische Vorarbeit zu leisten, die jede gute Zeichnung in unserem Blatt erfordert.

STANDARD: Zudem will Ihr Starzeichner Luz aussteigen.

Léger: Ja, er wird uns im Herbst verlassen. Aber wir haben Verständnis dafür; er will sich neu finden.

STANDARD: Fühlt sich die Redaktion noch von derselben Solidarität wie gleich nach dem Attentat getragen?

Léger: "Charlie Hebdo" wurde eher als Symbol unterstützt – sogar von Leuten, die uns nie gelesen hatten. Bei unserer politisch engagierten Arbeit sind wir nach wie vor sehr allein. Das ist nichts Neues. Die übrigen Pariser Medien haben sich schon immer darauf beschränkt, die Aussagen der Politiker wiederzugeben.

STANDARD: Ihr Blatt hat seit langem keine Mohammed- Karikaturen gebracht.

Léger: Kann sein – aber das war kein bewusster Entscheid. Uns geht es nicht um Mohammed, sondern, wenn schon, um die Frage der Religion an sich. Wir interessieren uns zum Beispiel für konkrete Themen wie etwa die gemäßigte Scharia in Ländern wie Tunesien. Aber wir sind nicht auf den Propheten fixiert, und die Frage der Karikaturen ist für uns keine Obsession. Jeder Zeichner ist bei uns frei. Wir auferlegen uns keine Einschränkungen, aber wir fühlen uns auch nicht verpflichtet zu irgendwas. Entscheidend ist die Aktualität. Wenn zum Beispiel ein neuer Arabischer Frühling ausbricht, kann sich die Frage von neuem stellen.

STANDARD: War die Redaktion in letzter Zeit auch durch interne Querelen und den plötzlichen Geldsegen abgelenkt?

Léger: Ja, es gab Spannungen, aber wir haben schon vieles geregelt und sind daran, weitere Lösungen zu finden.

STANDARD: Konkret hatten Sie im März mit elf anderen "Charlie" -Mitarbeiten einen Aufruf unterzeichnet, "Charlie" müsse "frei bleiben". Frei gegenüber was?

Léger: Wir arbeiten an einer neuen Besitzerstruktur. Heute liegen die Aktien bei drei Personen oder -gruppen. Wir streben ein Beteiligungsmodell an, seine genauen Modalitäten sind aber noch offen. (Stefan Brändle, 12.7.2015)