Die chemische Verbindung OICR-9429 (gelbe Struktur) bindet an WDR5 (buntes Proteinmodell) und inhibiert dessen Funktion, was dazu führt, dass Krebszellen ihre Aggressivität verlieren (Hintergrund). Dieser Ansatz könnte als Grundlage für die Entwicklung neuer Therapiestrategien für Krebserkrankungen dienen.

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Institutsdirektor Giulio Superti-Furga arbeitete mit dem Molekularbiologen Florian Grebien.

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Wien – Die ersten Anzeichen lassen die Gefahr nicht erahnen. Müdigkeit, Blässe, Fieber: Unangenehm, aber wer denkt da schon an Leukämie? Doch oft nimmt das Leiden bereits nach wenigen Monaten einen lebensbedrohlichen Verlauf. Eine Behandlung muss umgehend erfolgen. So mancher Patient überlebt dennoch nicht.

Zum Glück ist akute Leukämie eine seltene Krankheit. Ihre jährliche Häufigkeit liegt bei vier Fällen pro 100.000 Personen. Wie bei allen Krebserkrankungen sind in der Regel Veränderungen im Erbgut die Auslöser. Eine solche Mutation kann zum Beispiel in der DNA einer noch unausgereiften Blutzelle im Knochenmark auftreten. "Dadurch hat sie Vorteile gegenüber anderen Stammzellen", erklärt der Molekularbiologe Florian Grebien vom Ludwig-Boltzmann-Institut für Krebsforschung.

Zellüberschwemmung

Die Folgen sind verheerend. Die Zelle kann sich nun schneller vermehren, und schon bald überschwemmen ihre Nachkommen den Körper. Funktionstüchtig sind sie allerdings nicht. Gesunde Blutzellen geraten immer stärker in die Unterzahl, die physiologischen Störungen häufen sich.

Bei rund neun Prozent der Menschen, die an der akuten myeloischen Variante von Leukämie leiden, liegt eine Mutation des Gens CEBPA vor. Florian Grebien ist es gemeinsam mit Kollegen des Wiener Forschungszentrums für Molekulare Medizin (CeMM) und einer internationalen Expertengruppe gelungen, den Auswirkungen dieser Veränderung auf die Spur zu kommen. Auch ein potenzielles Gegenmittel wurde identifiziert. Die umfangreiche Studie dauerte vier Jahre. Detaillierte Ergebnisse wurden nun vom Journal "Nature Chemical Biology" online veröffentlicht.

Das Gen CEBPA trägt den Code für das Protein C/EBPa. Letzteres ist ein sogenannter Transkriptionsfaktor – es reguliert die Herstellung von RNA-Kopien anderer Gene, die wiederum als Vorlage für die Produktion weiterer Proteine dienen. Normalerweise liegt C/EBPa in seiner p42-Version vor. Mutiertes CEBPA jedoch bringt meist die verkürzte p30-Variante hervor. Wer nun denkt, diese quasi verkümmerte Form sei funktionslos, der irrt, sagt Giulio Superti-Furga, Leiter des Forschungsteams und Direktor am CeMM. "p30 bekommt neue Wirkungsmöglichkeiten." Es interagiert mit anderen Molekülen als p42. "Wir kennen jetzt das soziale Umfeld dieses Proteins."

Neuer Verdächtiger

Im Rahmen ausgeklügelter Laborversuche gelang es den Wissenschaftern, einen zusätzlichen Verdächtigen dingfest zu machen: Wdr5. Dieses Eiweißmolekül ist Bestandteil des größeren SET/MLL-Proteinkomplexes mit aktivierender Funktion für mehrere Gene – unter anderem solchen, die ein normales Heranreifen von Blutstammzellen hemmen und stattdessen die unkontrollierte Vermehrung antreiben.

Bei den Untersuchungen zeigte sich, dass Wdr5 nur in Kombination mit p30 seine gefährliche Wirkung entfalten kann. Wie das Zusammenspiel zwischen den beiden Proteinen abläuft, ist noch unbekannt. Das Wissen um die Bedeutung von Wdr5 brachte die Forscher auf einen neuen Weg. Bereits in früheren Studien war seine Anbindung am SET/MLL-Komplex analysiert worden. Die Struktur der Kontaktstelle, eine taschenartige Einbuchtung im Wdr5-Molekül, war bekannt. Jetzt konnte man dafür einen maßgeschneiderten Antagonisten entwickeln, eine synthetische Substanz, deren Teilchen exakt wie ein Schüssel ins Schloss in der Vertiefung passen und dort stecken bleiben. Das Ergebnis trägt den unpoetischen Namen OICR-9429. Dieses kleine Molekül blockiert die Verbindung zwischen Wdr5 und dem MLL-Protein. Der Komplex kann seine Aktivität nicht entfalten, die Blutstammzellen reifen normal heran.

Superti-Furga ist begeistert. Personalisierte Präzisionsmedizin ist möglich, wenn man die molekularen Mechanismen einer Krankheit kennt, meint er. Bis aus OICR-9429 allerdings ein einsatzfähiges Medikament werden kann, dürften noch etliche Jahre vergehen. (deswa, 15.7.2015)