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Demonstranten forderten im Frühjahr eine Einschränkung des Festland-Einflusses in Taiwan. Sie besetzten auch das Parlament.

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Für eine weitere Annäherung an China: Kuomintang-Kandidatin Hung Hsiu-chu.

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Pragmatische Oppositionschefin: Tsai Ing-wen.

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Taipeh/Wien – Ob Hung Hsiu-Chu wirklich ins Rennen um die Präsidentschaft gehen wollte, bezweifeln viele Beobachter in Taiwan. Eine "versehentliche Kandidatin" nannte sie jüngst auch die "South China Morning Post" aus Hongkong. Doch am Sonntag wird sie mit größter Wahrscheinlichkeit beim Parteitag der regierenden Kuomintang (KMT) als offizielle Vertreterin für die Wahl im Jänner 2016 bestätigt werden.

Hungs kommende Kampagne gegen ihre Konkurrentin Tsai Ing-wen von der oppositionellen Demokratischen Fortschrittspartei (DPP) gilt nicht nur deshalb als historisch, weil erstmals zwei Frauen um das höchste Amt Taiwans kämpfen, sondern auch, weil das bisherige politische System auf der Insel fast vollständig auf den Kopf gestellt wird. Und am Ende könnten entscheidende Weichenstellungen für die Zukunft der Insel stehen.

Verschobene Fronten

Bisher war es stets so: Die konservative Kuomintang, deren Mitglieder einst nach verlorenem Kampf gegen die Kommunisten aus China geflohen waren, stand für das Bewahren des sogenannten Status quo gegenüber Peking – jener Position, die zwischen der Forderung nach einer Vereinigung mit Festland-China und jener nach staatlicher Unabhängigkeit liegt. Die DPP erhob radikale und populistische Forderungen, sie stand für die Konfrontation mit dem Festland und das Streben nach staatlicher Unabhängigkeit. Doch so ist es nicht mehr – die Fronten haben sich verschoben.

Das mag auch daran liegen, dass beide Kandidatinnen sich von unpopulären Vorgängern im Präsidentenamt abgrenzen müssen. Tsai übernahm die DPP 2008, als diese nach acht Jahren Regierungszeit ihres Präsidenten Chen Shui-bian am Ende schien. Dieser hatte die Konfrontation mit Peking gesucht, die Wirtschaft schleifen lassen, und war schließlich wegen Korruption verurteilt worden. Dagegen präsentiert sich Tsai nun als Kandidatin der Mitte und der moderaten Forderungen.

Gewinne nur bei Reichen

Hung muss nun auch gegen die schlechten Beliebtheitswerte von Amtsinhaber Ma Ying-jeou antreten, der 2008 auf einer Welle des Protestes gegen die DPP ins Amt gekommen war. Er hatte versprochen, die politischen und wirtschaftlichen Beziehungen zu Peking zu reparieren – eine Politik, die damals noch als eine Rückkehr zum Mainstream empfunden wurde.

Der Ansatz schien erfolgreich: Die Entspannung brachte hunderttausende Touristen vom Festland nach Taiwan, die Wirtschaft begann wieder zu wachsen. Kritiker – und vor allem viele junge Menschen – meinen allerindgs, das Geld komme nur bei einer kleinen Gruppe an. Die Teuerung treffe aber alle, die Reallöhne seien auf dem Stand von vor 17 Jahren. Eine Wohnung in Taipeh wird für viele zunehmend unbezahlbar.

Dagegen formierte sich Widerstand. Mitglieder der hauptsächlich studentischen Sonnenblumen-Bewegung organisierten im Frühjahr 2014 Großdemonstrationen in Taipeh. Sie warfen Ma vor, die Insel, deren politische Vereinigung mit dem Festland er nicht durchsetzen könne, stattdessen an Peking zu verkaufen. Mehrere Wochen lang wurde das Parlament besetzt. Und die Forderungen trafen auch bei den Wählern einen Nerv: Bei Regionalwahlen im Herbst 2014 verlor die KMT überraschend stark, die DPP legte zu wie selten zuvor.

Die "zufällige Kandidatin"

Doch das Votum hatte ungeahnte Folgen. Plötzlich wollte keiner der etablierten Politiker in der KMT mehr für die Präsidentschaft kandidieren und so seine politische Karriere riskieren. Hung, die laut manchen Beobachtern eigentlich ins Rennen gegangen war, um bekanntere Konkurrenten in den Wahlkampf zu zwingen, wurde mangels Alternativen zur Kandidatin der Regierungspartei. Die angeblich "versehentliche Kandidatin" tritt für eine engere Zusammenarbeit an und will gar Friedensverhandlungen mit der Volksrepublik beginnen. Forderungen nach einem Ende der Waffenimporte aus den traditionell verbündeten USA ließ sie erst kürzlich fallen.

Dass sich das politische Spektrum nun – trotz der Proteste für mehr Unabhängigkeit – in Richtung Peking verschiebt, sehen viele als ironische Wendung. Doch, betonen sie, gerade die Auswahl der Kandidatinnen habe gezeigt, wie sehr sich die politische Kultur und die Gesellschaft auf der Insel mittlerweile vom Festland entfernt haben. Während in Taiwan zwei Frauen um die Präsidentschaft kämpfen, so das Argument, seien alle sieben Mitglieder im Ständigen Ausschuss des Politbüros der Kommunistischen Partei Chinas Männer. (Manuel Escher, 18.7.2015)