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Wissenschafter bei der Arbeit.
In seinem User-Kommentar vom 15.7.2015 konstatiert Herr Kausenmut eine tiefschürfende wissenschaftliche Krise der Philosophie und stellt die empirisch-positivistische Herangehensweise als erfolgreichen Gegenentwurf dar. Die Wirklichkeit ist jedoch nicht ganz so einfach.
Empirie als sozialwissenschaftliche Methode
In der heutigen politik- und sozialwissenschaftlichen Forschung hat sich eindeutig eine empirische Dominanz herausgebildet – Befürworter dieser Forschung sehen darin eine Bestätigung, dass es sich hierbei um den wissenschaftlichen Königsweg handelt. Aus einer kritischen Perspektive betrachtet sollte man eher darauf verweisen, dass die Empirie schlicht die markantesten Aussagen trifft, da die hochkomplexe soziale Realität meist auf sehr einfache Indikatoren und Kausalitäten heruntergebrochen wird. Doch wer denkt, damit zu neutralem und objektivem Wissen zu gelangen, der irrt.
Die soziale Welt ist ein hochkomplexer Ort voller verschachtelter Pfadabhängigkeiten und dezentraler Akteure: Wer diese empirisch betrachten möchte, muss bereits zu Beginn seiner Forschung Grundannahmen treffen oder zumindest stillschweigend teilen, die man bestenfalls als verknappend bezeichnen könnte. Doch diese Annahmen führen zu drei grundlegenden Problematiken.
Sind individuelle Motive vernachlässigbar?
Erstens muss hier vom individuellen Handeln abstrahiert werden und im Idealfall mit Wahrscheinlichkeiten gearbeitet werden. Individuelle Motive finden in der Empirie keine Berücksichtigung. Dies reduziert Menschen zu Robotern, deren Algorithmus lediglich entziffert werden müsse, und negiert mehr oder weniger 5000 Jahre menschliche und zivilisatorische Entwicklungsgeschichte.
Wie komplex ist die soziale Wirklichkeit?
Zweitens muss ein Ursache-Wirkungs-Zusammenhang definiert werden. Je eingehender man jedoch soziale Phänomene betrachtet, desto mehr sollte man feststellen, dass die soziale Welt aus einem verschachtelten Aufeinandertreffen zahlreicher Einflüsse resultiert, die auch noch zeitlich asynchron verlaufen können.
Der Frage, welchen Einfluss bestimmte Ideen und Konzepte auf unser Handeln nehmen, kann man sich oft erst hunderte Jahre nach deren erstmaliger Formulierung nähern. Die politische und soziale Bedeutung eines wichtigen Ereignisses lässt sich vermutlich auch erst Jahrzehnte nach dessen Auftreten angemessen beurteilen – und selbst dann kann man noch darüber im Unklaren sein, wie stark der Einfluss tatsächlich zu gewichten ist.
Um ein simples Beispiel in den Raum zu stellen: Wie ließe sich 9/11 in Bezug auf den aktuellen geopolitischen Konflikt zwischen Liberalismus und Islamismus angemessen einordnen? Es ist sowohl möglich, dieses Ereignis als Auslöser für diesen Konflikt zu definieren, indem man sich den darauf folgenden Terroranschlägen, Gesetzgebungen und politischen Aktionen zuwendet, wie es auch möglich ist, 9/11 als Resultat des sowjetisch-afghanischen Krieges zu interpretieren, indem man sich der Entwicklung und Genese der Mujaheddin widmet – was uns zu Punkt drei führt:
Können wir Subjektivität überhaupt verlassen?
An dritter Stelle ist zu beachten, dass die Auswahl der zu betrachtenden Indikatoren einem interessengeleiteten Muster folgt. Jeder Forscher geht einem spezifischen Forschungsinteresse nach. Selbst im möglichst neutralen Optimalfall steht hinter der Forschung eine bestimmte Problemwahrnehmung, die es zu betrachten gilt. Es ist gar nicht möglich, von unserem subjektiven Interesse zu abstrahieren – allein dadurch, dass ein Ereignis oder Geschehen in eine Kausalitätskette gedrängt wird, findet eine inhaltliche Eingrenzung des Themenkomplexes statt.
Simplifizierungen der Wirklichkeit
Diese drei Punkte lassen natürlich eine grundlegende Frage außer Acht: Ist es dramatisch, dass wir manchmal die Wirklichkeit etwas simplifizieren müssen, um sie für uns besser fassbar zu machen? Keineswegs. Doch problematisch ist es, anzunehmen, mit diesen Simplifizierungen die Wirklichkeit wiedergeben zu können und ihr gerecht zu werden. Problematisch ist es, unkritisch einem Positivismusglauben anzuhängen und ihn als die letzte Weisheit wissenschaftlicher Wahrheitsfindung zu betrachten.
Philosophie aktueller denn je
Der Philosophie kommt hier die wichtige Rolle als Korrektiv zu: Betrachtet sich die Wissenschaft heutzutage als methodische Ausbildungswerkstatt, dann ist es umso notwendiger, auch Menschen einzubinden, die sich reflexiv mit den der Empirie zugrunde liegenden Annahmen befassen. Nur dadurch kann eine Dogmatisierung der Wissenschaft vermieden werden, die sonst irgendwann Gefahr läuft, ein selbstreferenzielles System zu werden, das sich um seiner selbst willen am Laufen hält.
Möchten wir wirklich Erkenntnisse über die soziale Wirklichkeit erlangen, ist es immer auch wichtig, den methodischen Gegenstandpunkt herauszuarbeiten und zu berücksichtigen. Nur durch ein Auseinandersetzen mit den eigenen methodischen Schwächen kann wirklicher Wissenszuwachs entstehen. Dies kann aber nicht innersystemisch und innermethodisch erfolgen. Hierfür wird es immer eine Denkrichtung geben müssen, die anders denkt und andere Grundannahmen setzt.
System der Wissensgenerierung hinterfragen
Die Philosophie ist also keineswegs zum Anachronismus geworden: Neben ihrer gesellschaftspolitischen Aufgabe kommt ihr auch in wissenschaftsinternen Debatten eine wichtige Rolle zu – ohne sie wäre es nicht möglich, das eigene System der Wissensgenerierung zu hinterfragen und zu einer wissenschaftlichen (und methodischen) Erneuerung zu gelangen. Ohne Philosophie würde Wissenschaft zur dogmatischen Religion verkommen. Die wissenschaftliche Notwendigkeit philosophischen Denkens könnte daher aktueller nicht sein. (Paul Purgina, 20.7.2015)