Wien – Grace Latigo war schon einmal hier. An jenem Ort, der auf den ersten Blick idyllisch wirkt, der die 48-jährige Performancekünstlerin aber in den letzten Wochen nicht zur Ruhe kommen ließ. Latigo wohnt in Rodaun im 23. Wiener Bezirk in der Nähe des Liesingbachs. Beim Spazierengehen vor einigen Wochen wurde sie von einem älteren Ehepaar gefragt, ob ihr die Grabsteine aufgefallen seien, die im Zuge der Revitalisierung des Liesingbachs am Ufer verlegt wurden. Grace konnte es nicht glauben und ließ sich vom Ehepaar ("Lilli und August") zu der Stelle führen. Tatsächlich: Namen, Geburtsdaten, Sterbedaten – das alles war auf den im Boden eingemauerten Grabsteinen zu lesen. Latigo fand das pietätlos, zückte die Handykamera und dokumentierte, was sie gesehen hatte. "Obwohl ich ohne Bekenntnis bin, ging es mir sehr nahe, weil es so respektlos ist."

Bei genauem Hinsehen erkennt man einzelne in Stein gravierte Inschriften oder Zeichen.
Foto: Maria von Usslar

Empört wendet sie sich an den STANDARD und lädt zum Lokalaugenschein. "Die Anrainer liegen hier auf den Steinen in der Sonne, feiern Partys, die Hunde kacken dort hin!" Es ist ein schwüler Nachmittag und ein hübsches Plätzchen, zu dem Latigo führt. Doch siehe da: Die Grabsteine scheinen weg zu sein. Erst als es plötzlich zu regnen beginnt und die Steine nass werden, erkennt man vereinzelt Namen und Inschriften. Auch Abschleifspuren sind deutlich zu sehen.

Vor rund 50 Jahren wurden am Liesingbach Grabsteine mitverbaut, die bei der Revitalisierung sichtbar wurden.
Foto: Maria von Usslar

"Wow, die haben was getan", ist Latigo zunächst erfreut. Als sie aber sieht, dass die Steine einfach abgeschliffen wurden, empört sie das noch mehr. "Genau das wollte ich nicht. Man sollte das aufarbeiten. Ich wollte wissen, wer hinter den Namen steckt."

Was war passiert? Auch die FPÖ hatte von den Grabsteinen Wind bekommen und im Juni bei der Bezirksvertretungssitzung einen Antrag auf Entfernung beziehungsweise Unkenntlichmachung der Schriftzüge eingebracht. Die Bezirks-SPÖ reagierte prompt und verlangte von der MA 45 (Wiener Gewässer), in deren Zuständigkeit der Umbau des Liesingbachbeckens fiel, das, was für Aufruhr im Grätzel sorgte, wieder in Ordnung zu bringen.

Ein Grabstein am Liesingbach bevor er abgeschliffen wurde.
Foto: Grace M. Latigo

Seitens der MA 45 heißt es, dass es vor rund 50 Jahren üblich gewesen sei, herrenlose Grabsteine als Baumaterial zu verwenden. "Man kann das durchaus als Recycling bezeichnen", sagt Sprecherin Mathilde Urban. Warum die Steine nun abgeschliffen wurden, darauf gab Urban keine Antwort mehr und war für den STANDARD nicht mehr erreichbar.

Aus den Augen aus dem Sinn? Für Latigo ist das keine zufriedenstellende Lösung. "Ich hätte mir gewünscht, dass man nachforscht, woher die Steine ursprünglich kommen." Sie findet es "unmenschlich", die Spuren einfach so wegzuwischen.

Die Liesingerin mit afroslowakischen Wurzeln will sie sich nun zumindest dafür einsetzen, dass am Liesingbachufer eine Gedenkfeier stattfindet: ein Come-to-gether, um den Platz rituell einzuweihen. (Text: Rosa Winkler-Hermaden, Video: Maria von Usslar, 17.7.2015)