Der Kommentar der anderen von Roman Imielski (im STANDARD vom 17. 7. 2015) macht deutlich, wie national gefärbt und verkürzt die Probleme unserer Zeit teils noch gesehen werden: So "scheint die Situation in Griechenland trotz der jahrelangen Wirtschaftskrise keineswegs schlechter zu sein als in unserem Land. So zumindest wirkt es aus der Perspektive eines Polen." Wohl nur, wenn er nicht gut informiert ist, denn die Arbeitslosenquote (1. Quartal 2015) etwa beträgt acht Prozent (Polen) zu 26 Prozent (Griechenland), die Jugendarbeitslosigkeit gar 24 zu 53 Prozent (Eurostat).

Generell ein Trugschluss: Verschiedene Krisen in Europa können nicht gegeneinander "aufgerechnet" werden. Vielmehr geht es darum, in einer Europäischen Union Probleme prinzipiell miteinander und nicht gegeneinander anzugehen. Daher sollten sich die Polen gerade, falls sie Unterstützung durch die weniger betroffenen EU-Länder im Fall eines sich "weiter ausdehnenden russisch-ukrainischen Konflikts" (Imielski) wünschen, auch mit den griechischen Problemen wohlwollend auseinandersetzen. Noch dazu, wo Letztere in signifikantem Ausmaß mitverschuldet sind durch die Grundkonstruktion der 1992 von allen EU-Ländern beschlossenen Währungsunion ohne begleitende politische, Fiskal- und Wirtschaftsunion! Diese vergrößert die Kluft (und in der Folge jetzt die Unstimmigkeiten) zwischen "Überschuss-" und "Defizitländern", obwohl sie nur zwei Seiten einer Medaille darstellen.

Der Stil der Debatte und des Umgangs miteinander sind essenziell, wenn die allseitige Kompromissbereitschaft erhalten bleiben soll. Wohl noch nie stand es so sehr auf der Kippe wie beim letzten EU-Gipfel: Fast wäre Griechenland heute kein Euroland mehr. Nach einer sozial desaströsen Umbruchsphase mit unumgänglicher humanitärer EU-Hilfe wäre Griechenland langfristig vom Kapitalmarkt abgeschnitten gewesen. Durch die starke Abwertung mit einer neuen Währung hätten Medikamente, technische Ausrüstung, Rohstoffe und Lebensmittel nicht länger importiert werden können. Wie alle EU-Ökonomien ist Griechenland heute aber wirtschaftlich keineswegs autark. Zudem hätte der Ausverkauf des Landes gedroht: Kanzler Faymann mahnte zu Recht, dass das von reichen Griechen ins Ausland verbrachte (wie jedes von außen kommende) Geld dann gegenüber einer neuen Landeswährung noch viel kaufkräftiger gewesen wäre.

All das erklärt, warum die so schwer errungene Lösung jetzt doch so leicht zu "verkaufen" ist und der deutsche Bundestag, das finnische und auch das österreichische Parlament mit großen Mehrheiten zustimmten (trotz sehr berechtigter Kritik an Details und wachstumshemmenden Effekten); und dass in Griechenland die Regierung und das Parlament ganz überwiegend der Meinung sind, dass dieser Kompromiss noch immer eine bessere Lösung darstellt als der Grexit. Dies ist ein typisches Charakteristikum der europäischen Integration: Suche nach "Pareto-optimalen Lösungen", die niemanden schlechterstellen. Einzelne Widerspenstige werden dabei nicht überstimmt, sondern entschädigt (so wurden etwa die Briten mit ihrem ESFM-Anteil abgesichert, falls Athen doch zahlungsunfähig werden sollte).

Aus griechischer Perspektive: Vor dem Referendum stand Tsipras mit dem Rücken zur Wand. Die EU-Partner ließen ihn und Varoufakis "anlaufen" mit der Forderung nach Schuldenrestrukturierung – nachweisbar gegen besseres ökonomisches Wissen, aus innenpolitisch-wahltaktischen Motiven. Im Gegenzug für die aufgezwungenen Austeritätsmaßnahmen hätte Griechenland nur die letzte Tranche aus dem vorigen "Rettungspaket" bekommen. Innenpolitisch wäre es Selbstmord gewesen, das entgegen Wahlversprechen und Parteiüberzeugung zu tun. Nach dem Referendum sieht die Sache anders aus: Tsipras hatte ein explizites Wählermandat, Verhandlungen allenfalls platzen zu lassen. Das gab ihm deutlich mehr Gewicht, und die Europartner gaben letztlich nach – widerstrebend und die Fakten kaschierend. Jetzt hat Griechenland bei verschärften Sparmaßnahmen mit Implementierungskontrolle zumindest ein ungleich besseres Paket: ein neues mehrjähriges Programm mit bis zu 86 Mrd. Euro und vor allem die Zusage, mittelfristig nach Evaluierung endlich über einen fruchtbaren Umgang mit dem Schuldenstand zu sprechen. Dazu kommt, dass griechische Staatsanleihen nach der Einigung umgehend wieder am freien Markt verkauft werden konnten. Die gewählte Lösung bleibt eine Art von Außensteuerung ohne passende demokratische Legitimierung, aber es kann immerhin zu einem für Griechenland von praktisch allen als relativ (!) besser beurteilten Ergebnis führen. Und die EU-Partner können durch die strengen Kontrollen den Deal zu Hause in der eigenen Demokratie "verkaufen", die heute ja allseits von Populismus angekränkelt ist und daher ehrlichen Argumenten oft schwer zugänglich. Keine ideale Lösung, aber immerhin ein typisch europäischer Kompromiss.

Dem EU-Ratspräsidenten Tusk ist zu verdanken, dass er Merkel und Tsipras im entscheidenden Moment vom Verlassen der nächtlichen Verhandlungen zurückhielt. Auch Frankreichs Politiker haben sich wieder einmal um die europäische Integration verdient gemacht. Übrigens: Dem deutsch-französischen "Tandem" sind solche Strapazen lang vertraut. Tatsächlich funktioniert es gerade deshalb, weil die beiden strukturell so unterschiedlichen Mitgliedstaaten zwischen ihren Standpunkten die Positionen der anderen meist abdecken und stellvertretend kämpfen bzw. Kompromisse finden können.

Es wäre zum Wohle des gemeinsamen Ganzen, wenn Konflikte weiterhin auf dem Verhandlungsweg gelöst würden, ohne die unfruchtbaren Vorurteile und Nationalismen der letzten Wochen. Die Währungsunion mit ihren systematischen Mängeln verantworten alle (!) EU-Regierungen. Jetzt gilt es den entstandenen Ungleichgewichten gemeinschaftlich gegenzusteuern. Das kostet – aber deutlich weniger als ein Zerbrechen der EU inmitten einer globalisierten Welt. (Gerda Falkner, 20.7.2015)