Bei Sonnenschein und leichtem Wind fährt Dávid mit seinem Minivan durch die Straßen Suboticas. Sein Ziel ist eine alte, verlassene Ziegelfabrik. Obwohl er täglich diesen Ort besucht, kennt ihn von den hier Anwesenden fast niemand. Kaum steigt er aus seinem Auto aus, fängt er mit einer Geländebegehung an. "Ganz vorne, beim Eingang, in 15 Minuten", sagt er zu jeder Gruppe, die ihm auf seinem Weg begegnet.

Sein Weg durch den "Dschungel", wie das Gelände rund um die Ziegelfabrik genannt wird, ist keine einfache Aufgabe. Das Terrain gleicht rudimentär einem Mistplatz. Plastikflaschen, Konserven, weggeschmissene Kleidungsstücke, schimmelige Essensreste und Knochen zahlreicher Tiere häufen sich da. Einsame Hundefamilien leisten den Gästen auf dem Gelände Gesellschaft. Versteckt zwischen Bäumen und selbstgebastelten Hütten bilden Menschen kleinere und größere Grüppchen. Die meisten stammen aus Afghanistan und Pakistan.

Die letzte Rast

"Es hat sich unter den Flüchtlingen herumgesprochen, dass sie hier am Stadtrand von Subotica niemand belästigt und sie von uns Essen und Medikamente kriegen", sagt Dávid. Für die meisten Flüchtlinge ist die alte Ziegelfabrik der letzte Rastplatz, bevor sie den Versuch starten, illegal die ungarische Grenze zu passieren. Noch einmal ausruhen und die letzten Kräfte mobilisieren.

Zahlreiche Gerüchte kursieren unter den sichtlich angespannten Flüchtlingen. Ihre Gefühle wechseln zwischen Hoffnung und Angst, Gewissheit und Skepsis. Vieles haben sie über die ungarische Exekutive gehört. Keiner weiß, was davon stimmt. Der Zweifel ist ihr ewiger Begleiter.

Ungarischer Grenzzaun

Bald soll ein Zaun an der grünen Grenze zu Ungarn die illegale Einwanderung in die Europäische Union eindämmen. Die Errichtung hat vergangene Woche begonnen und soll bis Ende November beendet sein. Dann soll der Zaun 175 Kilometer lang sein.

Die Flüchtlinge reagieren bereits auf den Bau: Immer seltener wird gerastet, immer schneller Richtung Ungarn gewandert. Manche lassen sich aber gar nicht beunruhigen. "Ein Zaun kann uns nicht aufhalten", sagt Omar. "Während unserer Flucht sind wir schon über verschiedene Zäune gekommen", zeigt sich auch sein Freund Faisal selbstsicher.

Bis dato haben Gruppierungen der extremen Rechten in Serbien das Migrationsthema kaum angetastet. "Das könnte sich durch den Bau des Zaunes aber ändern", befürchtet Pavle Kilibarda vom Belgrader Zentrum für Menschenrechte. Auf den Internetseiten einschlägig bekannter Gruppierungen tauchen schon erste Meldungen gegen Flüchtlinge auf. Die Bevölkerung in Subotica hat zunehmend Angst. Die Bewohner fürchten, dass der Grenzzaun einen "Flüchtlingsstau" auslösen könnte.

Serbien nur Transitland

In Serbien wollen aber die wenigsten Flüchtlinge bleiben. "Nicht nur aus ökonomischen Gründen, auch die menschenrechtliche Situation wird von vielen als schlecht empfunden", sagt der Jurist Kilibarda. Zwar habe sich mit den Neuerungen beispielsweise im Asylrecht die Situation in Serbien ein wenig verbessert, "aber es muss im Bereich der Menschenrechte noch viel getan werden", so der Menschenrechtler.

Auch die statistischen Daten bestätigen seine Aussagen. Personen, die in Serbien von den Behörden ohne gültige Papiere oder beim illegalen Grenzübertritt gefangen werden, haben die Möglichkeit, in erster Instanz eine Absichtserklärung abzugeben, dass sie Asyl beantragen möchten. Daraufhin werden sie einem der fünf in Serbien bestehenden Flüchtlingslager zugewiesen, wo sie dann offiziell ihren Antrag auf Asyl stellen können. Die Wenigsten machen das, die meisten gehen stattdessen gleich in Richtung Ungarn. Noch kleiner die Gruppe derjenigen, die in dem komplizierten Asylsystem tatsächlich dann auch das Bleiberecht erhalten.

Endlich Trinkwasser

Für die Einwohner in Subotica waren die Flüchtlinge bisher kaum bemerkbar. Am Stadtrand sahen sie die Wenigsten. Auch die Auch die Regierung der 150.000-Einwohner-Stadt nahm von dem Treiben bislang kaum Notiz.

Erst seit wenigen Tagen ist die Trinkwasserversorgung den Bewohnern der Fabrik durchgehend garantiert. "Nachdem wir die Wasserqualität im Brunnen bei der Fabrik haben testen lassen, stellte sich heraus, dass das Wasser gesundheitsschädliche Bakterien enthält", erzählt Tibor Varga, ein Mitarbeiter der christlichen Osteuropamission. "Daraufhin verordnete der Bürgermeister die Aufstellung von zwei Zisternen beim Eingang", sagt er weiter. Spenden sammelt Varga seit Jahren für die Flüchtlinge. Viele nennen ihn deswegen den "guten Menschen von Subotica".

Essensverteilung

Während sein Sohn Dávid den "Dschungel"-Rundgang macht, schreibt jemand mit seinem Finger aufs staubige Fenster des Lieferwagens den Satz "My life is empty without my family". Der "Täter" bleibt unbekannt, wohl fühlen die meisten Flüchtlinge so.

"Stellt euch in eine Reihe an", sagt Dávid das zweite Mal zu den um ihn versammelten Flüchtlingen. Nach chaotischen Sekunden ist die gewünschte Reihe fertig. Die Essensausgabe kann beginnen. Von wackeligen Tischen wird ihnen das Essen ausgeteilt. Dank einer Bäckerei bekommt jeder Flüchtling zwei Stück Brot und vier Eier. Das ist die tägliche Portion. Einige stellen sich zweimal in die Reihe.

Nicht alle können aber zur Essensverteilung. Manche sind verletzt. Ahmad, ein Bub mit schwarzem Haar, denkt auch an seinen Freund Aman, der nicht zum Van kommen kann. Dieser braucht einen Arzt. Dringend. Fußschmerzen quälen ihn. Sein Bein kann er kaum bewegen. Tausende von Kilometern von Pakistan bis hierher haben ihre Spuren hinterlassen. Dennoch wird auch er bald den Grenzübertritt wagen.

Am Rande der serbischen Grenzstadt Subotica befindet sich der letzte Rastplatz der Flüchtlinge bevor sie den Übertritt in die EU wagen.
Balázs Csekő, Siniša Puktalović


Situation in Kanjiža

Bei der immer tiefer liegenden Sonne füllen sich die Caféterrassen. Der lokale Sandwich-Verkäufer freut sich schwitzend über die große Anzahl an Kunden. Mehrköpfige Familien suchen eher Schatten und sitzen im Kreis unter Bäumen. Kleine Kinder schreien, die Eltern diskutieren über den letzten Schritt in Richtung EU. Lange werden sie hier nicht bleiben. Sie stehen kurz vor dem großen Sprung. Heute Nacht sollen sie den Boden der Europäischen Union erreichen.

Hier in Kanjiža, einer kleinen Stadt im serbischen Verwaltungsbezirk Nord-Banat, etwa eine halbe Stunde von Subotica entfernt, ist das täglich so. Immer dann, wenn aus Belgrad Busse mit zahlreichen Passagieren ankommen.

Business mit den Flüchtlingen

Trotz potenzieller Sprachbarrieren laufen die Geschäfte gut. Flüchtlinge sind zu einer florierenden Businessbranche geworden. Nicht nur Schlepper profitieren von den Menschen in Not. Auch auf legale Art und Weise lässt sich Gewinn mit ihnen erwirtschaften. Einigen umtriebigen Lokalbesitzern ist dieser Wirtschaftszweig nicht entgangen. Kurzerhand wurden ihre Angebote an die neuen Kunden aus muslimischen Ländern angepasst.

So werden nicht mehr nur die traditionellen Schweinefleischgerichte angeboten à la Pljeskavica und Ćevapčići, sondern auch zahlreiche Speisen mit Huhn oder Pizzas. Neuerdings kann man auch einige Informationen und Speisekarten auf Arabisch lesen. Viel Geld haben die meisten der Flüchtlinge nicht mehr, aber eine kleine Stärkung gönnen sich die meisten noch.

Diejenigen, die heute hier sind, sind mehrheitlich Syrer. Kriegsflüchtlinge, vom Regime Verfolgte oder Flüchtende vor den IS-Milizen. Menschen, die Frieden wollen. Menschen, die Frieden brauchen. Amr ist einer von ihnen. Der knapp 30-Jährige wurde in Syrien wegen eines regimekritischen Facebook-Likes ins Gefängnis gesteckt. Er konnte entkommen und ist seitdem auf der Flucht. Sein Ziel: Holland. "Dort leben meine Tante und mein Onkel," sagt er.

Über die Schlepper

Hätte er mehr Geld, könnte er sein Reiseziel schneller erreichen. Dafür, so sagt er, sorge ein internationaler Ring von Schleppern. "Sie sind überall um uns herum und sie sind sehr gut vernetzt." Wer das nötige Geld parat hat, der ist seinem Traum sehr schnell ein Stück näher.

"Money makes the world go around", sang einst Liza Minelli. Wenn es um Flüchtlinge geht, ist das nicht anders. Das wissen Amr und knapp 100 andere Flüchtlinge, die sich an diesem Tag in Kanjiža befinden, nur allzu gut. So kostet beispielsweise ein Flug von der Türkei nach Italien inklusive aller Reisedokumente 5.500 Dollar. Die Durchreise "von Serbien bis nach Ungarn etwa 1.500 Dollar", erzählt er.

Nur einmal nahm Amr die Dienste der Schlepper in Anspruch. Eine Bootsfahrt von der Türkei nach Griechenland. Das Wasserfahrzeug teilte er mit 42 weiteren Flüchtlingen. Fahrtkosten: 100 Dollar pro Person.

Der serbischen Grenzpolizei gehen täglich Schlepper ins Netz. "Seit Jahresbeginn konnten wir 202 Schlepper festnehmen und ihre Fahrzeuge beschlagnahmen," sagt Miroljub Trivunović vom regionalen Zentrum der serbischen Grenzpolizei in Subotica. Stolz präsentiert er die zahlreichen Pkws, die bis zum Ausgang der Gerichtsverhandlungen im Hof der Zentrale verharren werden.

Kritik an der serbischen Polizei

Für die serbische Polizei scheinen Nachrichten wie diese, die sie der internationalen Presse präsentieren kann, dringend nötig – und das nicht ohne Grund. Bisher dominierten Schlagzeilen über ihre Überforderung, ihre Bestechlichkeit und das gelegentliche brutale Vorgehen gegenüber den Flüchtlingen.

"An uns werden immer wieder Vorfälle herangetragen, wo uns die Personen davon berichten, dass sie von Polizisten aber auch von gewöhnlichen Bürgern zusammengeschlagen wurden," sagt Pavle Kilibarda. Die Polizei bestreitet diese Vorwürfe, schließlich gebe es kaum Anzeigen. "Ich möchte den Vorwurf kategorisch ablehnen, dass unsere Mitarbeiter jegliche Art von Gewalt anwenden. Ein humaner Umgang mit Flüchtlingen steht für uns an oberster Stelle", sagt Trivunović.

Dem entgegnet Kilibarda: "Die wenigsten Vorfälle werden letztendlich zur Anzeige gebracht. Dafür ist das Vertrauen in das serbische Rechtssystem zu wenig ausgeprägt und außerdem wollen sie einfach nur weiterziehen." Ein Bericht von Human Rights Watch vom April dieses Jahres, in dem von zahlreichen brutalen Misshandlungen seitens der Polizei zu lesen war, bestätigt diese Aussage.

Aus Ungarn gab es in den letzten Monaten auch viel Kritik am Vorgehen der serbischen Behörden, diese würden zu lasch vorgehen und es den Flüchtlingen zu leicht machen, die Grenze zu überschreiten. Seit rund zwei Monaten sekundieren knapp 40 Polizisten aus Österreich den serbischen Kollegen bei der Überwachung der rund 175 Kilometer langen Grenze zu Ungarn. Im einzigen regionalen Zentrum an der ungarischen Grenze in Subotica sollen moderne Geräte und die österreichische Expertise der schlecht ausgerüsteten serbischen Polizei helfen.

Menschliches Pingpong

Am Hauptplatz in Kanjiža, aber auch in der ganzen serbisch-ungarischen Grenzregion hört man immer wieder den Satz: "Ich will meinen Fingerabdruck nicht in Ungarn hinterlassen." Auch Amr sagt das. Das liegt an der Dublin-III-Verordnung. Seit sie in Kraft ist, werden die Fingerabdrücke in der europäischen Datenbank EURODAC gespeichert und die Flüchtlinge müssen im ersten Land, in dem sie registriert werden, auch ihren Asylantrag stellen. Die meisten wollen aber nicht in Ungarn bleiben, sondern lieber nach Deutschland oder in die Benelux-Staaten.

Wer sich aber weigert, wird – wie in dem bilateralen Rückführungsabkommen zwischen Serbien und Ungarn vorgesehen – wieder nach Serbien zurückgeschoben. Heuer passierte das bereits über 2.000 Mal. Denen, die von der serbischen Polizei beim Versuch des Grenzübertritts erwischt werden, droht eine kleine Verwaltungsstrafe von knapp 5.000 Dinar, etwa 42 Euro, oder paar Tage Gefängnis. Danach wird der Versuch neu gestartet.

"Bis ich mein Ziel erreiche"

Dem Belgrader Zentrum für Menschenrechte sind Berichte bekannt, wo inoffiziell zahlreiche Flüchtlinge, ohne Angabe von Gründen, von Ungarn nach Serbien abgeschoben wurden. Manche angeblich schon vier, fünf Mal. Das Vorgehen der serbischen und ungarischen Behörden bezeichnet Kilibarda "als menschliches Pingpong".

Abschrecken können solche Berichte die Flüchtlinge aber nicht, zu stark ist der Wunsch, in die Europäische Union zu gelangen. Auch Amr sieht das so: "Wenn sie mich erwischen, werde ich es erneut versuchen. So oft, bis ich mein Ziel erreiche." (Balázs Csekő, Siniša Puktalović, daStandard.at, 28.7.2015)