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Jeremy Corbyn mischt die eigene Partei auf.

Foto: AP/Stefan Rousseau

Fast drei Monate nach der Wahl schaut Großbritannien halb belustigt, halb verzweifelt auf die schwer geschlagene, aber immer noch größte Oppositionspartei. Trotz ihres drittschlechtesten Ergebnisses seit 1918 widmet sich die Labour Party nicht etwa der Analyse ihrer Niederlage und möglichen Ideen, wie man die Mitte zurückgewinnt. Vielmehr scheint die einstige Arbeiterpartei vor einem Linksruck zu stehen, der sie auch für 2020 unwählbar machen würde.

Die Verkörperung dieser Politik heißt Jeremy Corbyn, 66. Er vertritt seit 1983 den Wahlkreis Islington North im Unterhaus – dort also, wo sich in den 1980er-Jahren die "verrückte Linke" (loony Left) tummelte.

Zeitgenosse von Blair und Brown

Im gleichen Jahr kamen auch Tony Blair und Gordon Brown ins Parlament. Doch während diese beiden die neue Realität der Thatcher-Ära anerkannten, ihre Partei zu New Labour umformten und an die Regierung führten, blieb Corbyn sozialistischen Idealen treu und verharrte auf den Hinterbänken des Parlaments. Nicht einmal ein Parteiamt hatte er jemals inne, und von innerparteilichem Ausgleich will er nichts wissen.

Liegt Corbyn gerade deshalb in einer Umfrage unter Labour-Mitgliedern vor seinen Mainstream-Konkurrenten? 91 Ortsvereine favorisieren den Altlinken, 83 wollen den Schattengesundheitsminister Andrew Burnham, 79 entschieden sich für die Schatteninnenministerin Yvette Cooper. Die Parteirechte Liz Kendall liegt mit 14 auf dem letzten Platz.

Idol der Jugend

Kein Zweifel: Corbyn elektrisiert viele, seine Kampagne quillt über von jungen Leuten. Der Vegetarier mit dem eisgrauen Vollbart und der stets etwas leidenden Miene erledigt seine Wege mit dem Fahrrad.

Er tritt für die nicht einmal von den meisten Iren mehr gewünschte Vereinigung der grünen Insel ein, will die Abschaffung der Monarchie und die Verstaatlichung von Eisenbahn sowie Gas-, Elektrizitäts- und Wasserversorgung.

Prinzip geht vor Familie

Seine Prinzipientreue trug sogar zur Scheidung von seiner zweiten Frau bei: Weil diese den Sohn auf ein Gymnasium statt auf eine Gesamtschule schicken wollte, verließ Corbyn das eheliche Heim. Darüber mag der Politiker heute allerdings nicht mehr reden.

Andere Parteigrößen machen nun gegen Corbyn mobil. Ex-Gesundheitsminister Alan Milburn beschuldigte seine Parteifreunde, sie hätten wohl "einen Todeswunsch" – vergleichbar dem "längsten Brief eines Selbstmörders", mit dem Labour 1983 in die zweite Wahl gegen Margaret Thatcher zog und haushoch verlor. Und Tony Blair teilte all jenen, deren Herz für Corbyn schlägt, mit, sie sollten sich doch "einer Transplantation unterziehen". Dies wiederum rief den langjährigen Vizepremier John Prescott auf den Plan: Mit Beleidigungen sei dem Phänomen nicht beizukommen.

Konservative profitieren

Unterdessen reiben sich die Konservativen unter Premier David Cameron die Hände. Schamlos haben sie gute Labour-Ideen wie die Erhöhung des Mindestlohns sowie niedrigere Energiepreise in ihr Regierungsprogramm aufgenommen und preisen sich damit der Mittelschicht als "Partei für die ganze Nation" an. Die freche Behauptung könnte Realität werden, wenn sich Labour tatsächlich ins linksradikale Ghetto zurückzieht. (Sebastian Borger aus London, 25.7.2015)