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Ob USA oder Griechenland – kaum ein Schuhputzertraum geht auf.

Foto: ap/Petros Giannakouris

Bekannt ist, dass in Amerika die Rockefeller-Erzählung von dem Schuhputzer, der es zum Millionär geschafft hat, immer noch funktioniert. Darum wählen amerikanische Taxifahrer, wenn man sie fragt, meistens Republikaner, weil die Demokraten ihnen die Steuern stehlen. "Freedom", Freiheit, ist eine amerikanische Erzählung. Die Freiheit von Staat und Steuern gehört dazu, denn sonst kann man ja kein Geld verdienen, geschweige denn reich werden. Dass man es trotzdem nicht wird, ist egal.

Die amerikanischen Realeinkommen des unteren Fünftels sind seit den 70er-Jahren kontinuierlich gesunken. Kaum ein Schuhputzertraum geht auf. Es macht nichts. Die amerikanische Mittelklasse stagniert bei rund 50.000 US-Dollar, die sich penetrant nicht erhöhen. Joseph Stiglitz hat die Zahlen dazu: "The Price of Inequality" heißt sein Buch von 2012, in dem er argumentiert, dass eine derartige Einkommensspreizung über Zeit notwendigerweise zum Verlust der Demokratie führen wird.

Big Data und Business an der Macht

Zwei amerikanische Soziologen haben in den USA unlängst für einen kleinen Skandal gesorgt, als sie in einer Fachzeitschrift eine quantitative Studie veröffentlicht haben ("Democracy, this WAS a nice experiment"), in der sie argumentieren, dass Amerika keine Demokratie mehr ist, da nur noch Big Data und Big Business die Macht haben, Gesetzesinitiativen auch zu Gesetzen zu machen – indem sie die entsprechenden Ausschüsse im Kongress und im Repräsentantenhaus einfach "kaufen".

Wenn Demokratie bedeutet, dass der aggregierte Volkswille zu Gesetzen wird, also zum Beispiel auch die Gesetzesinitiativen von Grassroot-Initiativen, dann ist Amerika in diesem Sinne keine Demokratie mehr. Hannah Arendt hat schon 1948 formuliert: "Finanzkonzentration führt zu Machtkonzentration, führt zu Krieg." Aber offensichtlich sind menschliche Lernkurven – siehe Klima – begrenzt.

Eingelullte Mittelschicht

Europa amerikanisiert sich. Die Zahlen sind hinlänglich bekannt. Für Deutschland kann man sie finden in dem Buch von "Stern"-Autor Walter Wüllenweber, "Die Asozialen: Wie Ober- und Unterschicht unser Land ruinieren – und wer davon profitiert", das einen netten Ausflug in die Welt der deutschen Superreichen bietet, die sich bei der Auswahl sozialer Projekte, die sie generös finanzieren wollen – wenn überhaupt – komplett überfordert fühlen.

Ulrike Herrmann, "taz"-Redakteurin, liefert in ihrem Buch "Hurra, wir dürfen zahlen" die Psychologie dazu: Da die Mittelschicht lieber nach oben möchte und daher gerne glaubt, dass wenn sie nur hart genug arbeitet und den Gürtel enger schnallt, sie da auch irgendwann einmal ankommt, lassen sich die mittleren 60 Prozent von Erzählungen wie etwa der von der "Exportnation Deutschland" so einlullen, dass am Ende sogar die deutsche Krankenschwester mit 1.400 Euro netto im Monat glaubt, sie gehöre dazu beziehungsweise bekomme vom deutschen Exportkuchen etwas ab.

Darum hat sie bei den letzten Wahlen 2013 wahrscheinlich auch nicht SPD gewählt, denn die SPD wollte ja die Steuern der Besserverdienenden erhöhen – und die Krankenschwester wähnte sich zugehörig. Hauptsache nicht Hartz IV, dann ist man schon Mittelschicht.

Vermögens(un)verteilung wie 1913

Man kann ähnliche Zahlen finden bei Pierre Rosanvallon, der in seinem Buch "The Society of Equals" aufführt, dass die großen Staaten in Europa, allen voran Frankreich, heute ungefähr die gleiche Vermögens(un)verteilung haben wie 1913. Was ab 1914 passiert ist, wurde erst im letztem Jahr mit viel historischem Pathos und didaktischem Bemühen durch die europäischen Feuilletons gejagt.

Kluge Köpfe führen in Fortsetzung der historischen Analogie sogar an, dass John Maynard Keynes überaus frustriert – und traurig – genau dann aus der britischen Verhandlungsdelegation des Versailler Vertrages ausgeschieden ist, als er erkannt hat, dass die Siegermächte von Reparationszahlungen, illusorischen Schuldenforderungen und mithin Austeritätspolitik keinen Abstand zu nehmen gedachten.

Thomas Piketty hat erst letztes Jahr in seinem vielbeachteten Buch "Capital in the 21st Century" einen kompletten Datensatz für alle Industriestaaten über die letzten 300 Jahre vorgelegt, der die ungleiche europäische Vermögensverteilung inzwischen zum salonfähigen Thema macht – nu will keiner darüber reden. Der Talk in Berliner Szene-Salons und Restaurants geht eher darüber, ob man noch linksdrehendes Wasser trinkt. Oder doch lieber nur rechtsdrehendes, das natürlich vorher über Kieselsteine und Mineralien gelaufen ist, die natürlich vorher passgenau auf den eigenen Organismus angepasst wurden. Der Perversion des Geldadels sind nach oben noch nie Grenzen gesetzt worden.

Griechen-Schelte ist leichter als Crouch

Bei der Gelegenheit kann man sich dann gepflegt über Griechenland empören, jene faulen Schmarotzer, die jetzt die Eurozone in den Ruin treiben. Auf chauvinistische Art Deutsche gegen Griechen zu stellen, ist ja viel naheliegender als auseinanderklamüsern zu müssen, dass es sich bei dieser Schuldenkrise vielleicht um das moderne Problem eines quasi-europäischen Klassenkampfes (pfui!) handelt, bei dem griechische Oligarchen und deutsche Export- und Bankenfürsten sich auf Kosten des griechischen Hafenarbeiters und der deutschen Lidl-Verkäuferin bereichern, aber die Verluste sozialisieren – was nur möglich ist, weil der Euro-Governance eine politische Union fehlt, und es mithin keine Instrumente europäischer Distribution gibt. Hayeks Traum einer von der Demokratie (und maßlosen Forderungen von Gewerkschaften) weitgehend entkoppelten Wirtschaft lässt grüßen!

Griechen-Schelte ist auch viel leichter (und angenehmer), als Colin Crouchs Buch "Post-Democracy" zu lesen, der von der Entkernung der europäischen Demokratie zu berichten weiß, untern anderem weil arm in Europa einfach nicht mehr wählt. Entsprechende Datensätze hält auch das Wissenschaftszentrum Berlin für Interessierte bereit. Aber es interessiert sich ja keiner dafür, denn es ist ja sowieso alles alternativlos. Oder? (Ulrike Guérot, 27.7.2015)