Wien – Während seiner Kenia-Reise forderte US-Präsident Barack Obama ein Ende der Genitalverstümmelung an Mädchen, Großbritannien entzog im Juli zum ersten mal zwei Kindern die Reisepässe, weil befürchtet wurde, dass sie für die menschenverachtende Prozedur nach Afrika ausreisen könnten. Alleine in der Europäischen Union leben 500.000 Frauen, die verstümmelt wurden – weltweit sind es mehr als 125 Millionen Betroffene. Die Praktik scheint dem Mittelalter zu entstammen, das Thema ist allerdings nach wie vor aktuell. Die steirische Hebamme Ursula Walch gründete mit SAAMA die erste österreichische NGO, die mit Projekten vor Ort hilft.

STANDARD: Was versteht man unter Genitalverstümmelung bei Mädchen und Frauen?

Walch: Es gibt unterschiedliche Formen in den verschiedenen Ländern und deren Ethnien. Prinzipiell werden drei Typen in Afrika unterschieden. Bei Typ eins wird eigentlich nur die Klitorisvorhaut entfernt. Die Beschneiderinnen sind aber oft alt, zittern und die Kinder halten nicht still. Sie arbeiten dann mit der Klinge nicht sehr sorgfältig, sodass auch anderes Gewebe verletzt werden kann. Bei Typ zwei wird die Klitoris und die kleinen Schamlippen und bei Typ drei werden auch die großen Schamlippen entfernt. Das verursacht eine große Wunde, die dann mit Dornen zugeklammert wird.

STANDARD: Wie wird Genitalverstümmelung durchgeführt?

Walch: Auch das kommt auf die unterschiedlichen Volksgruppen an. In manchen Gebieten wird das als großes Ritual in der Dorfgemeinschaft begangen, in anderen Gebieten bringen die Mütter oder Großmütter die Mädchen zu illegalen Beschneiderinnen und die Prozedur findet quasi im Geheimen statt. Aber immer unter schwer unhygienischen Bedingungen.

STANDARD: Welche medizinischen oder psychologischen Folgen haben diese Verstümmelungen?

Walch: Zehn Prozent der Mädchen sterben an den Infektionen oder gleich danach an den Verblutungen. Bei Typ zwei kann Urinieren schon Probleme machen, weil die Wunde links und rechts zugeklammert wird und dadurch die Harnöffnung gequetscht werden kann. Die Menstruation fließt schlecht ab. Bei Typ drei ist es ganz schlimm: Da wird die Öffnung oft bis auf Erbsengröße zugenäht. Dadurch wird nicht nur Urinieren zum Problem, sondern auch Geschlechtsverkehr zur Folter. In der Hochzeitsnacht wird die Öffnung wieder aufgeschnitten. Meistens vom Mann mit dem Küchenmesser. Bei der Geburt muss die Wunde noch weiter geöffnet werden. Und so beginnt dieser Zyklus. Nach der vierten, fünften Prozedur ist kein Gewebe mehr da, weil immer mehr Gewebe fürs Zunähen hergenommen werden muss.

STANDARD: Welche psychologischen Folgen gibt es?

Walch: Ganz schlimme psychische Schäden. Depressionen, Angsststörungen, Ängste vor Geburten und sie haben oft ihr Leben lang Schmerzen. Kann nach der fünften Geburt nicht mehr bis auf Penisdicke zugenäht werden, ist das nicht selten der Grund, dass ein Mann die Frau verstößt. Normalerweise wird auch kein Zusammenhang zwischen den Beschneidungen und Folgeerscheinungen wie Fisteln oder Zysten hergestellt. So kann es sein, dass die Frauen mit ständig übelriechendem Ausfluss von ihrer eigenen Familie verjagt werden. Diese Verstümmelung passiert aufgrund einer uralten Tradition, die nicht hinterfragt wird, und wenn, wird mit "Reinheit" und Fruchtbarkeit argumentiert. Der Hauptgedanke dabei war aber gewiss, um Kontrolle über die Frau und ihre Lust zu erhalten.

STANDARD: Wie sind Sie auf die Idee gekommen, eine NGO zu gründen?

Walch: Ich bin seit Jahren international in der Westsahara in der Geburtshilfe tätig. Im Zuge meiner Einsätze habe ich dann spanische NGOs kennengelernt, die mich auf das Thema der Genitalverstümmelung aufmerksam gemacht und ich in den Senegeal begleitet habe. Mir war nach Gesprächen mit den Frauen und Hebammen vor Ort schnell klar, dass ich helfen möchte. Aufklärung und Sensibilisierung passiert in Österreich sehr viel – die betreffen aber nur die rund 8000 FGM-Opfer in Österreich. Ich wollte aber vor Ort helfen und Opfer behandeln.

STANDARD: Wie kann man vor Ort helfen ohne sich als "weiße Retter" zu präsentieren?

Walch: Wir haben vor Ort SAAMA Senegal gegründet und mit einem lokalen Krankenhaus einen Partner gefunden. In Dakar bauen wir gerade ein Zentrum auf, wo zwei Hebammen aus dem Senegal angestellt werden. Außerdem schulen wir mit europäischen Spezialisten senegalesische Ärzte in chirurgischen Interventionen. Das ist auch wichtig, damit das Projekt nachhaltig wirken kann.

STANDARD: In fast jedem Land der Erde ist Genitalverstümmelung verboten.Wie sieht die Diskrepanz zwischen Recht und Realität aus?

Walch: Wo kein Kläger, da kein Richter. Es wird nicht wirklich geahndet oder verfolgt. Im Senegal ist das Gesetz sehr streng. Dort droht jeder Beschneiderin fünf Jahre Gefängnis. Verurteilungen gab es aber noch keine. Von den UN-Frauen weiß ich, dass strenge Gesetze aber auch problematisch sein können, weil viele beschnittene Kinder immer jünger werden, damit es heimlicher passieren kann. Oder die Familien fahren einfach nach Gambia oder Guinea, wo es nicht so streng verfolgt wird.

STANDARD: Im Kampf gegen Genitalverstümmelung in Europa ist es ein schmaler Grad zur Diskriminierung von gesamten Volksgruppen. Wie verhindert man, dass nicht jede Frau aus Afrika sofort unter Generalverdacht fällt?

Walch: Sicher passiert das. Es ist unheimlich schwer. Die einen Kinderärzte sagen, es wäre am besten, wenn man die Kinder regelmäßig untersucht. Kinder, die zu uns kommen, werden zwar untersucht, doch nicht die Genitalien. Gezielte Kontrollen sind aber gleichzeitig heikel. Führt man die nur bei Migrantinnen aus Somalia, Eritrea oder anderen betroffenen Ländern durch, dann stigmatisiert man natürlich Menschen. Es dürfte da auch nicht nur Kontrollen geben, sondern es müsste ein medizinisches Programm geben, dass auch die Eltern aufklärt und sie gleichzeitig über die Rechtslage in Österreich aufklärt. Die Bemühungen dahingehend sind in Wien sehr groß. (Bianca Blei, 2.8.2015)