Bild nicht mehr verfügbar.

Die späteren RAF-Terroristen Andreas Baader und Gudrun Ensslin vor der Urteilsverkündung im sogenannten Brandstifterprozess in Frankfurt Ende Oktober 1968.


Foto: ap

Wien – Die 98 Kapitel tragen stolze Titel wie "Psychose und Udo Jürgens" , "Die Verbindung von den Fleckentfernern der Nachkriegszeit zur historischen Figur des Judas" oder "Auf Klettergerüsten sitzen und rauchen". Geschlagene 15 Jahre hat der deutsche Autor an diesem Monstrum von Roman geschrieben. 830 Seiten, vollgestopft mit Dialogen, Verhören, philosophischen Betrachtungen und Googelei im Zeichen des großen Vorbilds Thomas Pynchon, hat Frank Witzel schließlich dem Leben, seinem Leben abgerungen.

In Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969 geht es dem 1955 ins deutsche Wirtschaftswunder geborenen und in der sogenannten bleiernen, mit selbstzufriedenen Wohlstandswampen vollgestellten Hochblüte der Bundesrepublik Deutschland aufgewachsenen Autor vor allem auch um eines: Es wird hier nicht nur eindrücklich geschildert, warum diese Ära nicht nur der Farbe Grau, sondern vor allem auch der Farbe Beige zugeordnet werden muss – obwohl das ganze Land gleichzeitig "reiner als rein", "porentief rein" oder "blütenweiß" dazustehen versuchte. Anhand des damals heftig beworbenen Fleckenreinigers K2R schwingt sich Frank Witzel überhaupt zu einer längeren Exkursion über den deutschen Sauberkeitswahn der Nachkriegszeit als Ersatz für Vergangenheitsbewältigung beziehungsweise konsequente Fortführung des "rassischen" Reinheitswahns der Nazis auf.

Es geht im Rahmen einer oft wirr durch die Zeit springenden Erzählung auch um das beginnende Erwachsenwerden eines dreizehneinhalbjährigen, vom Autor sehr gern autobiografisch bis zur Kenntlichkeit getarnten Teenagers, der gegen die Elterngeneration und die katholische Kirche aufbegehrt und dabei seine Leitbilder zielsicher im deutschen Terrorismus beziehungsweise in der Hochblüte der angloamerikanischen Popkultur sucht.

Mit Schulfreunden gründet er eine Bande und nennt diese Rote Armee Fraktion. In seinem Notizbuch findet alles Eingang, was er im Fernsehen über Andreas Baader oder Gudrun Ensslin aufschnappt: Brandsätze in Frankfurter Kaufhäusern, der darauffolgende Strafprozess. Nichts wird ausgelassen, Frank Witzel hat meist mehr Zeit als der Leser Nerven.

Pubertärer Größenwahn

In diesem Übergangsalter wird zudem fanatisch Musik gehört; der Roman beinhaltet die Interpretation des Beatles-Albums Rubber Soul speziell auch in religiöser Hinsicht, der Titelheld ist Ministrant. Es wird auch noch mit Plastikfiguren gespielt. Kein Wunder, dass im Kinderzimmer der schwarze Ritter also Andreas Baader und die braune Indianersquaw Gudrun Ensslin heißen.

Frank Witzel vertieft sich zwischen neunmalkluger wie naiv kindlicher Sprache und nur noch wenig geerdeter akademischer Gockelei speziell auch in die Ideengeschichte dieser Zeit. So tauchen Psychoanalyse, pubertärer Größenwahn und Pfaffenterror im Konvikt gleichberechtigt neben Derrick und Derrida auf. Ideologiegeschichte und RAF-Heiligenverehrung wird ebenso betrieben, wie es hochkomisch um eine Form der literarischen Selbsterregung geht, die zwischendurch in einem Sanatorium Station macht.

Die titelgebende manische Depression hat ja nicht nur angenehme Nebeneffekte aufzuweisen; falls man bei dieser Krankheit überhaupt von Nebeneffekten sprechen kann. Immerhin geht man gewöhnlich ganz darin auf. Am Ende ist der Titelheld beinahe 60 Jahre alt. Er rät von einem Neuanfang dringend ab. (Christian Schachinger, 31.7.2015)