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Die TV-Serie "Desperate Housewives" spielt mit den Klischees einer Nachbarschaft.

Foto: ap/Peter Stone

Wien – Nachbarschaft: Bei diesem Wort schwingen Nostalgie, Gemeinschaft, Verbundenheit mit. Die Kinder spielen gemeinsam im Hof. Man kennt sich, grüßt bei der Begegnung im Stiegenhaus nicht nur höflich. Und kleine Gefälligkeiten, wie die Blumen des Nachbarn zu gießen oder kurz auf dessen Kinder aufzupassen, gehören fast schon zum guten Ton.

Doch diese Zeiten sind lange vorbei. Hinter welcher Tür die Familie mit dem kleinen Kind haust oder wie die freundliche alte Dame in der Nebenwohnung heißt, wissen die wenigsten. Laut einer Studie der Uni Wien kennt in Österreich nur jeder Zweite seine Nachbarn und Nachbarinnen.

Grätzel-Zusammenhalt längst verschwunden

"Die klassische Grätzel-Identität gibt es ganz einfach nicht mehr", sagt Soziologe Christoph Reinprecht. Vor dem Zweiten Weltkrieg übten die Bewohner und Bewohnerinnen eines Grätzels meistens eine homogene Tätigkeit aus, was den Zusammenhalt in der Nachbarschaft verstärkt hat. Beispielsweise haben sich rund um den Südbahnhof in Wien vorrangig Eisenbahner angesiedelt. Der gemeinsame Job, der ähnliche Lebensstil hat früher Nachbarn und Nachbarinnen zusammengeschweißt. Das hat sich nach den 1950er-Jahren stark verändert. "Inzwischen orientieren sich die Leute vor allem daran, wo Wohnungen leistbar sind", schlussfolgert Reinprecht.

Klicken statt Klingeln

Stefan Theißbacher möchte das ändern. Vor einem Jahr gründete er mit einem kleinen Team in Wien die kostenlose Internetplattform "FragNebenan". Das Ziel: sich gegenseitig den Alltag zu erleichtern. Großstadtmenschen klingeln nur ungern bei den Unbekannten von nebenan. Auch wenn es sich nur um kleine Gefälligkeiten handelt, etwa sich eine Leiter auszuborgen, fährt man eher durch die halbe Stadt zu einem Freund oder einer Freundin, als im eigenen Wohnhaus um Hilfe zu bitten. Dieses Bild zeigt sich zumindest in diversen Nachbarschaftsforen.

Das geht auch einfacher, dachte sich der Start-up-Gründer: "Die Plattform ist eine Möglichkeit, sich online mit Leuten direkt aus dem eigenen Grätzel zu vernetzen", sagt Theißbacher. Innerhalb von 750 Metern scheinen für den User alle Registrierten aus der Nachbarschaft auf. Mit wenigen Klicks kann so beispielsweise die Nachbarin am Sonntag um etwas Mehl gebeten werden.

Wissen aus dem Grätzel

"FragNebenan" konnte im Laufe des eineinhalbjährigen Bestehens 13.000 Mitglieder locken, geworben wird vorrangig durch Mundpropaganda. Die zentralen Punkte sind Nachbarschaftshilfe, Empfehlungen und Treffen. Die User nutzen die Plattform unterschiedlich. "Grundsätzlich verwenden Leute aus allen Altersgruppen unsere Plattform, aber auffallend viele junge Familien. Wir haben zum Beispiel einige Gruppen, wo Eltern Babysitting organisieren. Natürlich vertraut man nicht gleich jemandem sein Kind an. Aber diese Dinge entstehen oft mit der Zeit."

Andere Elterngruppen organisieren sich, um Kinderkleidung und Spielzeug zu tauschen. Manche Eltern stimmen sich ab, um gemeinsam auf den Spielplatz im Grätzel zu gehen, oder sie holen sich Empfehlungen für einen guten Kinderarzt aus der Umgebung.

Kinder fördern Vernetzung

Den Soziologen Christoph Reinprecht überrascht nicht, dass vorrangig Eltern die Plattform nutzen, denn für ihn hängen Nachbarschaft und Kinder unmittelbar zusammen: "Kinder verstärken das Nachbarschaftsbewusstsein. Es gibt genug Themen und damit auch Anknüpfungspunkte, die alle Eltern berühren", sagt der Universitätsprofessor. Durch den erleichterten Erstkontakt entstehen schneller soziale Bindungen. Reinprecht ortet den Trend, dass Familien mit Kindern wieder im innerstädtischen Bereich leben wollen. Das verstärke laut dem Soziologen wiederum das Bedürfnis, Nachbarschaft in der Stadt zu gestalten.

Inzwischen wird der Nachbarschaftsgedanke auch bei neuen Wohnbauten bedacht. "Ein Vehikel der Bauträger ist die Vernetzung der Bewohner", sagt der Soziologe. Bauprojekte mit Wohnbauförderungen müssen nun ökologische und soziale Standards erfüllen, wie zum Beispiel Gemeinschaftsräume. Allerdings gibt Reinprecht zu bedenken, dass Nachbarschaft nur mit einem realen Kontakt entstehen kann. "Dazu gehört es auch, dem Nachbarn einmal Eier zu geben oder dessen Blumen zu gießen." Es gibt also doch noch einen kleinen Unterschied zwischen dem globalen Dorf und der gelebten Nachbarschaft. (Sophie-Kristin Hausberger, 10.8.2015)