Wissenschaftsforscherin Ulrike Felt beobachtete, dass Adipositas zunehmend als "soziale Epidemie" beschrieben wurde und der Druck auf übergewichtige Menschen anstieg.

Foto: Ursula Schersch

Wien – Übergewicht gilt als zentrale gesundheitspolitische Herausforderung moderner Gesellschaften. Dringliche Warnungen vor den Folgen von Übergewicht für den Einzelnen und die Gesellschaft sind ebenso omnipräsent wie Ratschläge, wie dem Übergewicht beizukommen sei. Ein Diskurs, der viele Stigmatisierungen bereithält, so die Wissenschafts- und Technikforscherin Ulrike Felt. Felt untersucht in einem Forschungsprojekt an der Uni Wien gemeinsam mit ihren KollegInnen Michael Penkler und Kay Felder, wie in der Behandlung und Prävention von Übergewicht mit sozialen oder kulturellen Differenzen umgegangen wird.

Wo werden solche Unterschiede gemacht oder nicht gemacht, und was für Konsequenzen haben solche Einteilungen in der Wiener Gesundheitsversorgung? Felt und ihr Team untersuchen dafür etwa Präventionsprogramme, welche die Teilnehmerinnen und Teilnehmer in deutsch-, türkisch- und bosnisch-/kroatisch-/serbischsprachige Gruppen unterteilten. "Wir konnten hier beobachten, dass das Problem des Übergewichts je nach Gruppe unterschiedlich konzipiert und bearbeitet wird", sagt Felt. So wurde etwa bei den türkischsprachigen Gruppen Wissensvermittlung in den Vordergrund gestellt, während bei den deutschsprachigen Frauengruppen Schwierigkeiten mit dem Gewicht vorwiegend als psychologische Probleme gerahmt wurden.

In einem Vorgängerprojekt forschte Felt bereits darüber, wie Menschen überhaupt eine Vorstellung von dem Problem Übergewicht bekommen, wofür auch Medienanalysen österreichischer Zeitungen durchgeführt wurden.

Die "kranke Gesellschaft"

Spätestens mit der Veröffentlichung des ersten österreichischen Adipositas-Berichts im Jahr 2006 gab es eine breite mediale Berichterstattung über Adipositas, die bis dato noch sehr verbreitet als "Fettsucht" bezeichnet wurde. "Dieser Begriff hat eine extrem negative Konnotation und vermittelt Vorstellung von Menschen, die sich nicht unter Kontrolle haben", sagt Felt. "Es ging einerseits darum, was gesellschaftlich schiefläuft – andererseits darum, was die Einzelnen falsch machen: Kinder sitzen nur mehr vor dem Fernseher, und wir nehmen einfach viel zu viel Nahrung zu uns", beschreibt Felt den Tenor diverser Medienberichte über die "kranke Gesellschaft". Adipositas wurde zu "einer der gefährlichsten Epidemien des 21. Jahrhunderts quasi sozialen Ursprungs" – ein Bild, das auch zahlreiche Stereotypisierungen bietet.

Im Adipositas-Bericht selbst wurden die sozialen Differenzen stark betont: die stärkere Betroffenheit von Menschen mit geringerem Einkommen und Bildungsgrad oder der Umstand, dass bei Folgeerkrankungen von Adipositas schichtspezifische Unterschiede festgestellt wurden. "Wir wurden neugierig, wie mit diesen Unterschieden in der Praxis umgegangen wird", beschreibt Felt, wie die Idee zu dem Projekt "From Lab to Intervention and Back – Doing and Undoing Diversity in Obesity Research, Treatment and Prevention", das vom Wiener Wissenschafts- und Technologiefonds WWTF gefördert wird, entstand.

Um die Rolle sozialer oder kultureller Differenzierungen im Umgang mit Übergewichtzu untersuchen, hat das Forschungsteam unterschiedliche Orte der Behandlung, Prävention und Erforschung von Adipositas untersucht. Dabei arbeiteten Felt und ihr Team auch mit medizinischem Personal zusammen, welches Patientinnen und Patienten vor und nach Magenoperationen (Magenverkleinerungen oder Magenbänder) betreut. Auch Präventionsprogramme gegen Übergewicht wurden untersucht, die schon von vornherein auf sozioökonomisch benachteiligte Gruppen fokussieren. "Die Frage ist: Wann macht es Sinn, Leute in der Gesundheitsversorgung in unterschiedliche Gruppen einzuteilen?", sagt Felt.

Einerseits erlaube dies, Probleme und etwaige Benachteiligungen zu benennen. Andererseits laufe man Gefahr, Stereotypisierungen und kulturelle Zuschreibungen wiederum zu reproduzieren. Hier die Balance zwischen Individualisierung und Gruppenbildung zu finden ist eine Herausforderung, die sich für Verantwortliche in der Gesundheitsversorgung in allen Bereichen stellt.

Betroffene selbst begründen ihr Übergewicht oftmals auch mit bestimmten Gruppenzugehörigkeiten. "Ich komme vom Land", "ich gehöre zur Computergeneration" oder "ich bin ein Nachkriegskind" lauten etwa einige Berichte von Menschen, die sich selbst einordnen und damit mögliche Gründe für Übergewicht verbinden.

Fehlender Dicken-Aktivismus

Felt sieht im Umgang mit Übergewicht viele Problemfelder. Mit der Thematisierung von Übergewicht als westlicher Zivilisationskrankheit habe sich Druck aufgebaut. "Dem Einzelnen wird immer mehr Verantwortung für das Funktionieren der Gemeinschaft gegeben, so viele kranke Menschen würden uns schließlich in ein sozioökonomisches Desaster stürzen." Dazu kommen noch massive Diskriminierungen am Arbeitsmarkt. In den USA ist längst bekannt, dass es dicke Bewerber und Bewerberinnen auf dem Arbeitsmarkt schwerer haben. Eine Studie der Universität Tübingen hat diese Hürde für Übergewichtige 2012 auch für Deutschland nachgewiesen.

Aktivismus gegen Diskriminierung von Dicken oder eine Pro-Fat-Bewegung, wie es sie in den USA schon lange gibt, sind in Österreich kaum präsent, so Felt. "Wir haben hier eine sehr starke Vorstellung, dass man am Körper arbeiten, ihn verbessern muss – als Beweis, dass man sich als Subjekt in der Hand hat." (Beate Hausbichler, 5.8.2015)