Niemand wisse, wie es nach dieser Woche weitergehe. Die Rede war von Griechenland, es war die Woche vor dem Referendum, nachdem wenige Tage davor die Verhandlungen der griechischen Regierung mit den Geldgebern abgebrochen worden waren. Historisches könne geschehen, hieß es, zumindest aber Benzin ausgehen. Reisende sollten genügend Bargeld mitführen und sich auch auf andere Knappheiten einstellen, während in diesen Tagen Flugzeuge mit Geldpaketen zur spezifischen Form der Hilfslieferungen wurden.

An einem dieser Morgen bringt auf der weiten Terrasse eines Luxushotels ein sich unbeobachtet fühlender Kellner letzte Korrekturen an den Frühstücksgedecken an. Himmel wie Landschaft sind vom letzten Pastell der Morgendämmerung überzogen, nur das Meer vor der Küste Korfus blickt bereits in klarem, tiefem Blau in den Tag. Als würden Millimeter signifikante Unterschiede in der Position von Messer, Gabel, Serviette und Teller ergeben, so genau rückt der Mann alles für die noch Schlafenden zurecht, während über den Bergrücken des Festlands mit ihrem ersten glimmenden und im selben Augenblick bereits grellen Bogenstück die Sonne auftaucht.

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Ein Teil von Korfu-Stadt

Im Schatten ist die Luft auch eine halbe Stunde später an der Küstenstraße Richtung Süden noch angenehm kühl. An den Stationen Richtung Hauptstadt wird auf die letzten Pendlerbusse gewartet. Auch der Autoverkehr geht um diese Uhrzeit noch fast zur Gänze in diese Richtung, während die unzähligen Geschäfte und Lokale an der Straße durch Moraitika zwar so gut wie alle bereits geöffnet haben, doch ebenso leer stehen, wie vermutlich keines der fein säuberlich platzierten Frühstücksgedecke auf der Terrasse des weithin sichtbaren Luxushotels bereits berührt worden ist.

Die Plattform des Deutschen Kaisers

Vor gut hundert Jahren, ziemlich genau um diese Tageszeit, ist das Automobil des Deutschen Kaisers zumeist schon wieder auf dem Rückweg von jener in der Inselmitte gelegenen Bergkuppe, auf der Wilhelm sich eine Aussichtsplattform errichten ließ, nachdem er den Erben Sisis deren Schloss Achilleion als Sommersitz abkaufte. Bilder von damals zeigen ihn mit weißem Hut und Sommeranzug. Seit 1908 ist das Achilleion eine der kaiserlichen Residenzen des Deutschen Reiches, ein verkleinerter Hofstaat begleitet Wilhelm regelmäßig auf die Insel, die er in melancholischen Momenten als Exil im Fall einer Abdankung im Auge hat.

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Schloss Achilleion

Nicht unwesentlicher Grund dafür, dass sowohl Sisi wie auch Wilhelm auf Korfu ihren arkadischen Sehnsüchten nachgehen konnten, war die Staatsform, die dem Land nach der Griechischen Revolution von 1821 von den europäischen Großmächten oktroyiert wurde. Denn zu einer Monarchie mit von außen eingesetzten Regenten zu werden gehörte schlicht und einfach zu den Zahlungskonditionen der damaligen Kreditgeber England, Frankreich und Russland. Womit sich die gebannte Gefahr der Ausbreitung republikanischer Ideen zu den Zinseinnahmen der Geberländer praktischerweise addierte, und womöglich nicht bloß ein Schelm, wer sich Böses dabei denkt, dass kaum ein Satz darüber in der aktuellen Debatte auftaucht.

Im Mai 1914, als der Deutsche Kaiser auf Korfu zum letzten Mal Gelegenheit und Muße hat, die Sonne von seiner Aussichtswarte aus auf- und untergehen zu sehen, ist gerade sein Schwager Konstantin als griechischer König am Werk, zu dessen wichtigeren Taten als Staatslenker gezählt werden muss, dass er überhaupt erst einmal Griechisch lernte.

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Nur ein Irrkopf womöglich auch, der sich Böses angesichts der unverhüllten Einflussnahme europäischer und besonders deutscher Politik auf das Griechenland dieser Tage denkt. An diesem Sommertag etwa, unterwegs auf der ab Moraitika schmalen Küstenstraße Richtung Süden, vorbei an blühendem Oleander und dem Meer. In den Fischerdörfern Boukaris und Petreti sind die Netze der Fischer geleert und die Sonne steht hoch genug, dass der Asphalt unter den Reifen des Fahrrades allmählich weich erscheint.

Wolkenloser Ouzo

Natürlich gäbe es genug von Leerstand und Verfall zu erzählen, von überwucherten Häusern, Verkaufsschildern oder Straßenlöchern. Es würde jedoch genauso wenig reichen, wie das Blau des Meeres zu schildern, Wolkenlosigkeit und Ouzo, den am nächsten Morgen an der Westküste zufällig entdeckten Sandstrand von Issos oder das sirrende Singen der Zikaden. Die Idylle als Gegenwährung greift genauso zu kurz wie irgendeine der vorgeblich harten Zahlen von Schuldenstand oder Defizit. Ein Nullsummenspiel, das sich wohl in keiner Tatsache besser spiegelt als in jener Perfektion, mit der gerade deutsche Aussteigerfamilien ihre Fremdenzimmer, Appartements oder Töpferkurse selbst im kleinsten korfiotischen Dorf anbieten.

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"Du sitzt bei an Olivenbam / und du spüst di mit an Stan / es is so aundas ois daham ...", so singen es auch Österreicher, in deren Lied sich Hektomatik-Welt auf Macht und Geld reimt. Als bloße Projektionsfläche kann jedoch selbst ein Land, dessen Meer so blau und dessen Häuser in vielen Gegenden so weiß sind, nur enttäuschen. Vor den Geldautomaten an der Geschäftsstraße Moraitikas stehen jedenfalls auch während der Rückfahrt keine Menschenschlangen, und an keiner Tankstelle stauen sich die Autos vor leeren Zapfsäulen, während vor allem deutschsprachige Zeitungen in möglichst symbolkräftigen Bildern längst derartige Anzeichen einer Endzeit ohne Banknoten und Benzin beschwören.

Ein "Nein" mit unklarer Bedeutung

Zwei Tage später, am Vorabend des Referendums, hängt an der Bundesstraßenkreuzung von Moraitika das erste politische Plakat dieser Tage. In roten, blauen und schwarzen Strichen steht darauf groß jenes Nein zur Sparpolitik geschrieben, dessen Bedeutung sich Resteuropa bis heute nicht erklären kann.

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Griechenland-Urlaub wie auf einer Postkarte: das Kloster Vlacherna nahe Korfu-Stadt.
Foto: Picturedesk / Tim Graham / Robert Harding

Ein Beginn wäre vielleicht, Griechenland als Ort zu begreifen, dessen "Kolonialisierung" sich seit der Griechischen Revolution nie allein auf die Territorien des Politischen und Ökonomischen beschränkt, sondern immer auch tief in die Landschaften von Sehnsüchten und Träumen vordringt. Beginnend dort, wo man mit dem Blick auf einen sich unbeobachtet fühlenden Kellner im Pastell der letzten Morgendämmerung ein Bild erzeugt, das erzählen soll, was die Geschichte anders nicht benennen kann. (Martin Prinz, Rondo, 7.8.2015)