Sand, so weit das Auge reicht. Ockergelb, knochenbleich, torfbraun, grau. Manche Dünen wirken mit ihren übereinanderliegenden Sedimentschichten wie üppige Cremeschnitten. Andere lassen an die gezackten Rücken riesenhafter Echsen denken. Wadis, die sich tief in die Landschaft geschnitten haben, enden im Nichts. "Und kommst du in ein paar Wochen wieder", sagt Reiner Hanisch, ein stämmiger, kleiner Mann mit sonnengegerbter Haut, "sieht die Landschaft vielleicht schon wieder völlig anders aus."

Der Guide mit den listigen Augen und der Schiebermütze auf dem Kopf findet sich hier dennoch zurecht. Regelmäßig erkundet er mit Hobbynomaden die geheimnisvolle Welt aus Sand. Nicht in der Sahara – in der Lausitz. Keine 120 Kilometer südlich von Berlin.

Bild nicht mehr verfügbar.

Hinter der deutschen Kleinstadt Welzow erstreckt sich eine Wüstenlandschaft, die auf nur 20 Quadratkilometern große landschaftliche Vielfalt zu bieten hat.
Foto: Picturedesk / A. Vossberg

Wüsten. In alten Mythen sind sie sowohl Schauplätze göttlicher Offenbarung als auch Orte der Versuchung. Nun preist ein Fremdenverkehrsverein aus der Niederlausitz "sinnliche Wüstenwanderungen" in Brandenburg an: beim Städtchen Welzow, das bisher bestenfalls als Kohlenloch Ostdeutschlands bekannt war. Ist das nicht wie Extremklettern auf einem Maulwurfshügel?

Wir haben uns einer Trekking-Gruppe angeschlossen: Seniorenfußballer, die mit ihren Gattinnen aus Sachsen angereist sind. "Am Abend haben wir in Cottbus ein Freundschaftsspiel", sagt ihr Kapitän, als wir auf dem Trampelpfad durch staubiges Buschland stapfen. "Da der Tagebau auf dem Weg lag, dachte ich mir: Nimmste diese Wüste halt mal mit."

Bald darauf erreichen wir eine Hochebene – und sind überwältigt. Vor unseren Augen liegt eine gigantische Welt aus Sand. Manche Kuppen sehen so surreal aus, als habe sie Salvador Dalí höchstpersönlich ins Gelände gemalt. In viele Dünen hat der Wind sanfte Wellenlinien gezeichnet. Und an einigen Stellen sprießt im Ödland zartes Grün: Sanddornsträucher.

Abfallprodukt Wüste

Die Wüste von Welzow ist keine gewöhnliche Wüste. Ohne den Braunkohletagebau würde es sie nicht geben. Im Grunde ist diese 20 Quadratkilometer große, zauberhafte Welt nur ein Abfallprodukt. "Kippe" nennen die Bergleute das Material, das sie beim Schürfen nach Kohle mithilfe von Baggern aus dem Boden wühlen und mit Förderbändern zu sogenannten Rippen aufschütten: zu Bergketten aus Sand.

Zwischen den Rippen erstrecken sich Wüstentäler, ein wenig wie Wadis, die von Regengüssen ausgeschwemmt wurden. "Mit jedem Unwetter verändert sich die Topografie", sagt Hanisch und lässt Sand durch seine Finger rieseln. "Ganze Berge können weggespült werden." Denn unter einer dünnen Schicht aus Erde liegt in ganz Brandenburg fast ausschließlich dieses feinkörnige, unfruchtbare Sediment im Boden.

Bild nicht mehr verfügbar.

"Kippe" nennen die Bergleute das Material, das sie beim Schürfen nach Kohle mithilfe von Baggern aus dem Boden wühlen und mit Förderbändern zu sogenannten Rippen aufschütten: zu Bergketten aus Sand.

"Gott schuf die Lausitz", besagt ein altes Sprichwort aus der Gegend. "Und der Teufel hat die Kohle darunter vergraben." In Wirklichkeit ist die Braunkohle vor 16 bis 20 Millionen Jahren unter Luftabschluss und hohem Druck aus Blättern, Nadeln, Zapfen und Früchten von Mammutbäumen, Wasserfichten, Eichen und Lorbeergewächsen entstanden. In den 1850er-Jahren wurde bei Welzow erstmals Kohle gefunden.

Daraufhin entstanden erste Brikettfabriken – und immer mehr Arbeitsplätze: 1933 zählte das einstige Dorf fast 7.000 Einwohner. Der Boom hatte auch Schattenseiten: 136 Ortschaften mussten dem Bergbau weichen. Mehr als 20.000 Menschen wurden umgesiedelt.

Zehn Kilometer westlich von hier, im aktiven Teil des Tagebaus, tragen Bagger und Förderbrücken noch immer Woche für Woche ganze Landstriche ab – die Wüste wächst und wächst. Wir aber erkunden den Teil des Gebiets, in dem schon seit gut 20 Jahren niemand mehr schürft. Es ist eine Welt der Stille, Hanisch senkt die Stimme. "Zehn Minuten Schweigen", flüstert er. Wir sollen die Wüste mit allen Sinnen erfühlen. Wie in Zeitlupe wandeln wir durch die Einöde.

Weiter im Sand wühlen

Hanisch beugt sich weit nach vorn und zieht ein längliches Stück Metall aus dem Sand. "Kettenbolzen", sagt er. "Stammen von einer Planierraupe." Plötzlich ist da ein wehmütiger Ton in seiner Stimme. 20 Jahre lang arbeitete er selbst als Bergarbeiter. "Genauso eine Raupe habe ich damals gefahren", erzählt er. Ein Lächeln huscht über sein Gesicht. Hanisch liebte seinen harten Job. Doch 1996 wurde die Bergbaufirma, bei der er beschäftigt war, geschlossen. Jetzt führt er Trekking-Gruppen durch die Wüste. "Zumindest kann ich weiter im Sand wühlen", sagt er und zwinkert uns zu.

Hoch am Himmel kreist ein Raubvogel – ein Roter Milan, ihn erkennt Hanisch am tief gegabelten Schwanz. Habichte, Bussarde und Seeadler gibt es hier ebenfalls. Selbst größere Raubtiere fühlen sich wohl. Hanisch fischt das Bild eines Wolfsrüden aus der Jackentasche. Eine Fotofalle hat es kürzlich in der Abenddämmerung geknipst. Zwar wurde unweit von hier bereits 1904 der "letzte Wolf Deutschlands" erlegt. Doch inzwischen sind aus Polen wieder welche eingewandert. Zwölf Rudel sollen allein in der Lausitz leben. Aber noch nie sei ihm auf einer Tour ein Wolf begegnet, sagt Hanisch. Nur bei Heißhunger würden sie Menschen angreifen. "Aber in den Oasen bei Welzow gibt es so viele Hasen und Rehe", sagt er.

Bild nicht mehr verfügbar.

Ein Förderband und sonst nichts

Einer der Seniorenfußballer aus der Trekking-Gruppe entdeckt die Spuren eines Rehs im Sand. Doch nach den Tatzenabdrücken von Wölfen suchen wir vergebens. Später stoßen wir auf unzählige Löcher im Sand, die den Durchmesser eines Eurostücks haben. Was mag das wohl sein? Hanisch lacht und deutet auf eine der Spielerfrauen aus der Gruppe. Auch sie erkundet die Wüste in Stöckelschuhen.

Immer tiefer führt der Guide ins Ödland. Knorrige, elefantenfarbene Gebilde aus Sand erheben sich links und rechts des Pfades. Unsere Gespräche werden leiser und verstummen schließlich ganz. Es ist eine eigentümliche Magie, die diese karge Landschaft ausstrahlt. Wer sie durchwandert, wird auf sich selbst zurückgeworfen.

Sorbische Suppe

Auf der Hochebene wartet ein Mittagsmahl an einer langen Tafel mit schneeweißen Tischtüchern und mit Blick auf das Wüstenpanorama. Statt Couscous, Fladenbrot und Oliven zu reichen, schöpfen Frauen in Spitzenschürze und mit kunstvoll gebundenen Hauben sorbische Hochzeitssuppe aus einem riesigen Kochtopf: eine lokale Spezialität aus Karotten, Zwiebel, Eierstich, Lorbeer und frischem Liebstöckel.

Wenn es nach Reiner Hanisch geht, ist das Potenzial dieser Wüste als Urlaubsparadies noch lange nicht ausgeschöpft. "Kameltouren", flüstert er beim Nachtisch, und seine Augen leuchten. Unlängst wurde die Idee erstmals im Gelände getestet. "Leider trauten sich die Touristen nicht, auf den Tieren zu reiten", erzählt er, "die wollten lieber Jeep fahren."

Wahrscheinlich brauche es noch einiges an Überzeugungsarbeit, sagt Hanisch, bis endlich die ersten Kamelkarawanen durch Brandenburg ziehen. (Till Hein, 11.8.2015)