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Ungleichheit spielt eine große Rolle in der Medizin auch bei der Ernährung.

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Ursula Schmidt-Erfurth ist Vizepräsidentin des Europäischen Forums Alpbach und Vorsitzende der Gesundheitsgespräche. Sie leitet die Augenklinik an der Med-Uni Wien

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Ungleichheit und die Auswirkungen auf die Gesellschaft ist ein facettenreiches Thema, das bei den Gesundheitsgesprächen am Europäischen Forum Alpbach im Mittelpunkt stehen wird. Ursula Schmidt-Erfurth, Augenärztin, Vizepräsidentin des Europäischen Forums Alpbach und Vorsitzende der Gesundheitsgespräche, erklärt die Hintergründe.

STANDARD: Wie kam es dazu, Ungleichheit zum Thema des heurigen Europäischen Forum Alpbach zu machen?

Schmidt-Erfurth: Ungleichheit ist eine der wesentlichen Determinanten für die Entwicklung der Gesellschaft. Krankheit und Gesundheit wiederum sind ebenfalls vitale Determinante – für jedes Individuum, also jeden einzelnen von uns genauso wie für die gesamte Community. Beide Komponenten sind untrennbar verbunden, eine bedingt die andere. Damit potenziert sich die gesellschaftspolitische Relevanz des Themas "Ungleichheit" erheblich.

STANDARD: Ungleichheit ist ein sehr offenes Thema. Was ist der wichtigste Faktor in Bezug auf die Gesundheit?

Schmidt-Erfurth: Bei den Gesundheitsgesprächen geht es um einen Realitäts-Check der modernen Gesellschaft. Es ist ein Missverständnis zu glauben, dass der individuelle Lebensstandard über den psychischen und physischen Zustand eines Menschen entscheidet. Vielmehr ist es das Ausmaß der Ungleichheit, also die Diskrepanz zwischen den Lebensumständen der Menschen, die am obersten und untersten Ende einer Gesellschaft leben. Diese Diskrepanz beeinflusst maßgeblich alle gesundheitlichen Rahmenbedingungen des ganzen Lebens. Sie beeinflusst die Kindersterblichkeit, die Lebenserwartung, Suizide, das Ausmaß und die Schwere von akuten und chronischen Erkrankungen, sogar die Anzahl der Unfälle. Das wissen wir aus vielen epidemiologischen Studien. In Ländern mit einem besseren "Gleichheitslevel" lebt der Einzelne und die ganze Bevölkerung signifikant besser.

STANDARD: Wo zum Beispiel?

Schmidt-Erfurth: Der Gesundheitszustand von Menschen, die in den USA oder in Russland leben, ist viel schlechter als der von Menschen aus skandinavischen Ländern. Je größer die Kluft zwischen arm und reich, umso schlechter ist das Wohlbefinden und die Vitalität einer Gesellschaft. Und das Wichtigste ist: Diese Differenz lässt sich niemals durch Investitionen im Nachhinein reparieren. Auch enorme Investitionen in Krankheitsbehebung und -versorgung wie in den USA oder auch Deutschland bleiben ineffizient, trotz steigender Ausgaben. Die Politik muss diese Kausalität berücksichtigen, wenn sie ein wirksames Gesundheitsmanagement erreichen will.

STANDARD: Könnten Sie dafür Beispiele geben?

Schmidt-Erfurth: Der britische Sozialwissenschaftler Michael Marmott, einer der Alpbach-Referenten, hat den sozioökonomischen Einfluss auf psychische und physische Gesundheit ausführlich mit Zahlen belegt. Er beweist: Wer Ungleichheit bekämpft, macht erfolgreiche Gesundheitspolitik. Ein Kind, das in schlechten Bedingungen aufwächst, hat ein deutlich größeres Risiko für psychische und physische Krankheiten im Erwachsenenalter als ein Kind, das in sicheren Verhältnissen aufwächst. Die Schäden aus der Kindheit und sogar die während der embryonalen Entwicklung sind irreparabel. Das heißt: Die sozialen Determinanten wirken intensiv und anhaltend. Sie sind sogar so stark, dass sie über Generationen hinweg weitergegeben werden. Das zeigen Untersuchungen, die sich mit Epigenetik beschäftigen deutlich. Was sich in der individuellen Lebenswelt in einen Menschen eingebrannt hat, manifestiert sich sogar im Erbgut und wird über Generationen weiter getragen.

STANDARD: Wie hängen Gesundheit und Wohlstand zusammen?

Schmidt-Erfurth: Gesundheit ist kein Produkt im ökonomischen Sinne und auch nicht käuflich. Wir werden in Alpbach die Frage stellen, ob es "bessere" Medizin für die gibt, die es sich "privat" leisten können. Die Zwei-Klassen-Medizin ist ja längst eine unausgesprochene Realität. Es ist aber zu prüfen, was sich der Privatpatient im Gesundheitssystem wirklich einkaufen kann. Oft sind mehr und teure Untersuchungen gar nicht notwendig und dem Wohlbefinden keineswegs zuträglich. Wenn ein Patient zum Kunden wird, ist der Hippokratische Eid schnell durch Gewinnoptimierung ersetzt.Tatsächliche Wirksamkeit ist ein kontroverses Thema in der medizinischen Versorgung generell, weil es dabei um Transparenz und Qualitätssicherung geht. Dazu sollen alle Beteiligten, Patienten, Ärzte, Spitalsbetreiber und Pharmaindustrie in Alpbach Stellung beziehen.

STANDARD: Die Frage ist auch, ob mit Geld medizinische Defizite ausgeglichen werden können?

Schmidt-Erfurth: Das Gesundheitswesen ist längst in den Fängen des freien Kapitalmarktes, trotz des Bekenntnisses, dass Gesundheit als Produkt einer Gesellschaft nicht kapitalisiert werden darf. Doch dies geschieht in immer stärkerem Ausmaß. Die Weichensteller, die gesundheitspolitisch relevante Entscheidungen treffen, sollen Rede und Antwort stehen, damit die immer drängenderen Probleme in der Gesundheitsversorgung erkannt und bewältigt werden können. Dabei beziehen wir bei den Gesundheitsgesprächen immer das ganze Spektrum der Zuständigkeiten ein: Vertreter von Universitäten reden mit Spitalsbetreibern, die Standesvertreter der Ärzte sind da sowie die Vertreter der Industrie und der Versicherungen. Sie alle haben Antworten, wie Geld sinnvoll in Gesundheit für alle investiert werden kann.

STANDARD: Warum gibt es auf diese alten Fragen keine klaren Antworten?

Schmidt-Erfurth: Weil Fakten und Daten im Gesundheitswesen nicht öffentlich zugänglich gemacht werden. Es gibt keine Transparenz. Wie sollen in einem System, das eine Art Black Box ist, qualifizierte Entscheidungen getroffen werden? Ich denke, die Gesellschaft kann sich diese Intransparenz in Zeiten der wirtschaftlichen und sozialen Enge einfach nicht mehr leisten.

STANDARD: Warum?

Schmidt-Erfurth: Weil die Probleme immer größer werden, und zwar in allen Altersklassen und Gesellschaftsschichten. Die Zahl der Kinder mit ADHS steigt, immer mehr Jugendliche sind gehandicapt durch Übergewicht, Erwachsene durch Diabetes, Alzheimer im Alter wird immer mehr zur gesellschaftlichen Herausforderung.

STANDARD: Alpbach war in den letzten Jahren immer auch eine Plattform, um über die Eigenverantwortung des Einzelnen zu diskutieren. Wie stehen Sie dazu?

Schmidt-Erfurth: Eigenverantwortung ist nur ein Baustein von vielen, den der Einzelne quasi selbst in der Hand hat. Doch um eigenverantwortlich leben zu können, ist zum Beispiel Bildung eine Grundvoraussetzung. Zugang zu Bildung ist aber nichts, was man selbst wählen kann. Entweder der Staat schafft entsprechende Voraussetzungen oder eben nicht und bildungsferne Schichten dürfen nicht zu "gesundheitsfernen" Menschen werden.

STANDARD: Eine staatlich verordnete Lebensführung?

Schmidt-Erfurth: Eines ist klar: Eine staatlich verordnete "gesunde" Lebensführung kann es nicht geben, das will auch niemand. Dafür sind die Menschen und Lebensformen viel zu unterschiedlich. Die UNO hat gerade 17 Nachhaltigkeitsziele für eine gesunde Entwicklung der Weltbevölkerung formuliert. Die wichtigste Forderung ist "End poverty" (Ü: Armut beenden). Eine Politik, die Armut bekämpft, bewirkt auch etwas für die Gesundheit einer Gesellschaft. Armut hat in unseren modernen, reichen Gesellschaften rapide zugenommen.

Weitere wichtige Punkte der neuen Agenda: "Ensure healthy lifes" (Gesundes Leben gewährleisten) und "promote wellbeing for all ages" (Ü: das Wohlbefinden in allen Altersstufen fördern). "Reduce inequality within and among countries" (Ungleichheit innerhalb eines Staates und zwischen Staaten reduzieren) ist ein klarer Auftrag für alle.

STANDARD: Apropos: Wie schätzen sie die Lage in Europa allgemein ein?

Schmidt-Erfurth: Die Frage ist immer: Wo gibt es innerhalb der EU die größten Defizite und worin bestehen sie? Für Vergleiche der EU-Mitgliedstaaten untereinander gibt es Messgrößen, die man gut heranziehen kann. Vor allem: In diesen Bereichen sind die Daten gut zugänglich und verfügbar. Gesundheit ist für die Umsetzung des gemeinsamen Europakonzepts ein sehr sensibler und wirksamer Parameter. Gelungene Europapolitik ist, wenn der Zugang zu medizinischer Versorgung uneingeschränkt gleich und gerecht ist. Zum europäischen Benchmarking gibt es eine eigene Session in Alpbach.

STANDARD: Abgesehen von epidemiologischen Daten: Könnte auch der Umgang einer Gesellschaft mit Behinderung und Krankheit ein Gradmesser sein?

Schmidt-Erfurth: Ungleichheit macht krank, Krankheit macht ungleich: Diese Zeile haben wir sehr bewusst als Motto gewählt. In jeder Gesellschaft gibt es Menschen, die einen Anspruch auf erhöhte Betreuung und Versorgung haben. Bei seltenen Erkrankungen ist das ein Thema, denn die Betroffenen finden nur sehr schwer Unterstützung. Andererseits haben auch die zahllosen Alzheimerpatienten keine Lobby. Das ist durchaus keine seltene Erkrankung und auch diese Patienten sind auf die umfassende Hilfe der Gesellschaft angewiesen. Heute sind diese Menschen ausgegrenzt. Staat und Gemeinwesen kümmern sich viel zu wenig, verlassen sich auf den stillen Einsatz von meist weiblichen Familienmitgliedern. Wenn es die nicht gibt, werden die Betroffenen alleine gelassen.

STANDARD: Wie engagiert sich das Europäische Forum Alpbach in der Problemlösung?

Schmidt-Erfurth: Es gibt in der Realität höchst erfolgreich umgesetzte Projekte und Initiativen, die exemplarisch Ungleichheiten und Defizite im Gesundheitswesen beseitigen. Der vom Forum ausgeschriebene Initiativen-Call hat eine überwältigende Flut an Einsendungen erreicht, 30 Modelle wurden ausgewählt und werden sich bei den Gesundheitsgesprächen präsentieren. So werden alte Denkmuster aufgebrochen und neue Ansätze entstehen. Wir wollen diesen Pionieren eine Plattform geben und innovativen Projekten ein engagiertes und kompetentes Publikum verschaffen. Kreativität ist hier die Antriebsfeder. Und natürlich der Blick auf Kunst und Kultur.

STANDARD: Inwiefern?

Schmidt-Erfurth: Oft beschäftigen sich Kunst und Kultur viel expliziter mit der "Conditio Humana" als die Wissenschaft selbst. Deshalb haben wir Denker und Denkerinnen eingeladen, sich im Rahmen der Veranstaltung "Literature meets Life Sciences" Gedanken zu machen. Die Biochemikerin Renée Schröder beschäftigt sich von Berufswegen und literarisch mit der Rolle der Gene. Der Kinderpsychiater Paulus Hochgatterer schreibt über die psychologischen Entwicklungsfaktoren eines Menschen und die Gesellschaftskritikerin Marlene Streeruwitz analysiert rigoros den Einfluß der sozialen Umwelt. Wir sind sehr gespannt, wie diese Autoren unser Generalthema Ungleichheit weit über die Gesundheit hinaus "behandeln" werden. (Karin Pollack, 14.8.2015)