An einem ungarischen Bahnhof an der Grenze zu Österreich frühmorgens: Ein klappriger Regionalzug aus Rumänien fährt ein, aus den Fenstern blicken nervöse Augen. Im Zug sind die Vorhänge der Abteile zugezogen. Die Suche nach einem Interviewpartner ist schwierig. Auf Anfrage geben viele aber bereitwillig bekannt, woher sie stammen: Pakistan, Bangladesch, Syrien. Der Zug hat Endstation Wien, hierher wollen sie. Zumindest vorläufig. Dutzende Flüchtlinge sind im Zug. Sie sind irgendwo in Ungarn zugestiegen, alle haben Tickets. Ein junger Mann aus Pakistan ist schließlich bereit, anonym ein Interview zu geben. Wir einigen uns auf den Namen Fesil. Der 23-Jährige spricht gutes Englisch und erzählt dem STANDARD die Hintergründe seiner Flucht.

Wie geht es Ihnen?

Ich bin nun seit vier Monaten und zehn Tagen unterwegs. Es ist die härteste Zeit meines Lebens. Ich habe nie wirklich gut geschlafen oder gegessen. Meine Ohren und Augen schmerzen, ich bin aber froh, es bis nach Österreich geschafft zu haben.

Warum haben Sie Pakistan verlassen?

Im Distrikt Sialkot haben wir große Probleme mit den Taliban. Ein Freund von mir hat ein Geschäft in der Umgebung meines Dorfes. Die Taliban verhalten sich wie die Mafia. Sie fordern Schutzgeld, und wenn du nicht bezahlst, töten sie dich einfach. In der Grenzregion, aus der ich komme, gab es in letzter Zeit auch immer wieder Kämpfe zwischen indischen und pakistanischen Soldaten.

Mein Vater hatte bis 2005 eine Firma im Norden Pakistans, diese wurde aber durch das große Erdbeben zerstört. So sind wir wieder in unser Dorf zurückgekehrt. Hier arbeitet mein Vater jetzt als kleiner Bauer. Wir haben kein Geld zur Verfügung, mit dem ich mir trotz meiner guten Ausbildung ein Studium leisten kann, das mir zu einem Job verhelfen könnte. Von 250 Haushalten haben nur ungefähr 20 ein Bankkonto. Die anderen haben nichts. Ich habe mitbekommen, dass jemand umgebracht wurde, im Streit um 50 Euro. In Europa sind die Leute freundlich, hier mögen die Menschen einander und sind hilfsbereit, nicht so wie in Asien. Deshalb kommen alle hierher.

Wie haben Sie sich von Ihrer Familie in Pakistan verabschiedet?

Wir hatten ein gemeinsames Abendessen mit meinen Eltern und Geschwistern. Ich sagte ihnen, ich würde versuchen, nach Europa zu gehen, um dort zu studieren und einen Job zu finden, um ihnen dann zu helfen. Mein Ziel ist es, ihnen Geld zu schicken, damit sich auch meine Geschwister eine Ausbildung leisten können. Um mir und meiner Familie eine bessere Zukunft zu ermöglichen.

Wie sind Sie von Pakistan nach Österreich gekommen?

Ich bin über Pakistan, Iran, Türkei, Griechenland, Mazedonien, Serbien, Ungarn und jetzt Österreich gekommen. Durch den Iran bin ich hauptsächlich zu Fuß gegangen, in der Türkei war ich auch mit Taxis unterwegs. In Griechenland habe ich in Alexandropouli ein Boot genommen. Dann bin ich weiter zu Fuß gegangen und längere Strecken auch mit dem Zug gefahren.

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Viele Flüchtlinge kommen über die sogenannte "Balkan-Route" nach Europa. Laut aktuellen Zahlen überqueren bis zu 1.800 Menschen pro Tag die Grenze von Serbien nach Ungarn. In Österreich an der Grenze zu Ungarn werden aktuell rund 200 Flüchtlinge pro Tag aufgegriffen. Das Foto zeigt einen Zug zwischen Mazedonien und Serbien im August 2015.
Foto: Reuters/OGNEN TEOFILOVSKI

Wie viel Geld hatten Sie für die Flucht zur Verfügung?

Ich habe 200 Euro von meiner Mutter bekommen. 100 Euro habe ich selbst gespart, durch Arbeiten auf dem Feld in Pakistan, wo das ziemlich viel Geld ist. 200 Euro habe ich dann noch von meinen Großeltern und von meinem Vater bekommen. Also insgesamt ungefähr 500 Euro.

Haben Sie mitbekommen, wie andere ihre Flucht finanziert haben?

Viele Flüchtlinge brauchen ungefähr 1.500 Euro bis nach Europa. Dabei muss man aber unterscheiden: Wenn man nicht gut Englisch spricht, braucht man einen Schlepper. Dieser ist aber teuer. Für jede Grenzüberquerung verlangen Schlepper ungefähr 200 bis 300 Euro. Wenn man sich gut verständigen kann, ist die bezahlte Hilfe aber nicht notwendig. So bin ich mit meinen 500 Euro bisher ausgekommen.

Wie konnten Sie sich mit so wenig Geld durchschlagen?

Ich habe einfach mit anderen gesprochen. Sie haben mir geholfen und ich ihnen. Ein Flüchtling aus Pakistan hatte zum Beispiel ein iPhone, mit dem ich mich mittels Wi-Fi über BBC informieren konnte, wie die Situation für Flüchtlinge in anderen Ländern ist. Im Gegenzug habe ich ihm dann übersetzt, was ich erfahren habe. An den Bahnhöfen habe ich mich auch in englischsprachigen Zeitungen immer über die nächsten Stationen zu informieren versucht, ob dort den Flüchtlingen geholfen wird.

Sind Sie in Kontakt mit Ihrer Familie?

Ich hatte seit vier Monaten keinen Kontakt, weil ich mir die Anrufe nicht leisten kann.

Wie kommunizieren andere Flüchtlinge mit ihrer Heimat?

Nicht alle Flüchtlinge sind arm. Aber es ist so, dass man in Ländern wie Pakistan, Afghanistan oder Syrien größere Probleme mit Terroristen bekommt, wenn man reich ist, weil sie hinter dem Geld her sind. Wenn man arm ist wie ich, hat man andere Probleme. Reiche Flüchtlinge können sich aber gute Smartphones leisten und damit in Kontakt mit ihren Familien bleiben. Ich kann das leider nicht.

Mit meinem alten Handy kann ich auch nicht online gehen, sondern nur ganz kurze Telefonate führen. Bis nach Hause nicht, weil das zu teuer ist. Einer meiner Brüder hat ein moderneres Handy mit 3G, aber um ihn erreichen zu können, müsste ich ein neues Handy kaufen. Vielleicht schaffe ich das später, jetzt geht das noch nicht.

Wie ist Ihr Tagesablauf in den letzten Monaten gewesen?

Sehr schwierig. Wenn man auf die Toilette muss, dann findet man oft keine. In Ungarn sind die öffentlichen WCs zwar gratis, in Mazedonien und in Serbien muss man dafür aber zwei Euro bezahlen. Auch das konnte ich mir nicht leisten.

Wie sind Sie mit diesem Problem dann umgegangen?

Ich habe die bewohnten Gebiete verlassen und bin auf das Land gegangen, um auf Feldern oder im Wald aufs Klo zu gehen. Ich bin es von zu Hause gewohnt, und ich wurde auch so erzogen, auf Sauberkeit zu achten. Deshalb ist es sehr hart für mich, längere Zeit ungewaschen zu sein.

Wann haben Sie zum letzten Mal geduscht oder gebadet?

Vor sieben Tagen. Ich habe in einem See in Serbien gebadet. Dort war ich eine Viertelstunde schwimmen und habe mich mit Seife gewaschen.

Wo haben Sie geschlafen?

Ich bin oft in der Nacht gegangen und habe dann am Tag in einem Park oder in einem Wald geschlafen. Während ich geschlafen habe, habe ich mein Geld in den Socken versteckt.

Was haben Sie gegessen?

Ich konnte mir nur ein Sandwich pro Tag um zwei Euro leisten. Das habe ich immer am Abend gegessen und dazu Wasser getrunken, aus der Flasche, die ich immer wieder aufgefüllt habe.

Ein Sandwich pro Tag hat Ihnen gereicht?

Ja, es hat meinem Körper ausreichend Energie gegeben. Und wenn ich mehr gegessen hätte, hätte ich wieder ein Toilettenproblem gehabt.

Wie oft am Tag haben Sie in Pakistan gegessen?

Dort habe ich dreimal am Tag einfache Speisen aus Getreide oder Reis gegessen und mich auch täglich geduscht und frische Kleidung angezogen.

Haben Sie keinen Hunger?

Doch, ich fühle mich hungrig, aber ich will es nicht zeigen und muss damit zurechtkommen.

Der Zug ist mittlerweile am Wiener Hauptbahnhof eingetroffen. Einige aus der Gruppe wollen weiter nach Italien. "Italy!", schreit Fesil in den Gang des Zuges. Eine kleine Gruppe steigt hektisch aus und bleibt mit suchenden Blicken auf dem Bahnsteig stehen. Der Zug fährt weiter nach Meidling. Auch hier steigt noch einer aus der Gruppe aus, der nach Italien will, seinen Freund aber am Hauptbahnhof verloren hat. Er springt aus dem Zug. "Hauptbahnhof! Hauptbahnhof!", schreit ihm Fesil nach.

Sie haben einen Rucksack, was ist da drin?

Ich habe vier T-Shirts, zwei Paar Schuhe und zwei Hosen, die ich aus Pakistan mitgenommen habe. Dazu noch ein Deo und eine Zahnbürste. In Griechenland habe ich mir einen neuen Rucksack um 15 Euro gekauft, weil der alte schon kaputt war. Ich habe auch noch eine Packung Tabletten gegen Kopfschmerzen.

Waschen Sie Ihre Kleidung regelmäßig?

Das ist schwierig. Wenn man beginnt, sein Gewand öffentlich mit Seife zu waschen, dann fällt man auf.

Haben Sie während der Flucht Erfahrungen mit Diskriminierung gemacht?

Ja, vor allem in Griechenland. Hier wurde ich oft aufgrund meiner Herkunft und meiner Hautfarbe beschimpft.

Gab es auch Gewalt?

Ja. Im Iran und an der Grenze zwischen Mazedonien und Serbien. Hier wurden Flüchtlinge auch von der Polizei geschlagen. Ich weiß nicht, warum.

Sie auch?

In Mazedonien bin ich entkommen, weil sie einen anderen vor mir erwischt haben. An der Grenze in der Türkei wurde ich geschlagen, weil mich jemand ausrauben wollte. Sehr viele wurden an der Grenze zwischen Serbien und Ungarn bestohlen. Ich hatte aber immer Glück.

Haben Sie auf der Flucht auch Spenden bekommen?

Drei Sandwiches, drei kleine Flaschen Wasser und Rasierzeug in Ungarn. Ein Stück Seife und Taschentücher in Serbien.

Haben Sie auch andere Menschen kennengelernt?

Ja, viele. Aus Kalifornien, England, Italien. Vergangene Nacht habe ich eine sehr nette Familie aus Südamerika kennengelernt, die als Touristen in Budapest waren. Sie waren sehr freundlich zu mir.

Und andere Flüchtlinge?

Auch viele. An Bahnhöfen und an den Grenzen. Viele aus Syrien. Familien mit kleinen Kindern. Als ich die Grenze zu Ungarn passiert habe, hat es sehr stark geregnet. Dort habe ich im Wald eine Familie gesehen mit einem völlig durchnässten Kind, das höchstens zwei Monate alt war. Das war schrecklich.

Haben Sie auch Freunde gefunden?

Ja. Aus Pakistan, auch aus Afrika. Ich habe sie aber alle wieder verloren.

Wo sind sie hin?

Ich weiß es nicht. Viele habe ich in Ungarn verloren, weil sie in unterschiedliche Lager gebracht wurden, wo dann auch ihre und meine Fingerabdrücke abgenommen wurden. Viele habe ich auch nur kurz an der Grenze kennengelernt, weil ich über die Grenzen immer in Gruppen gegangen bin.

Wieso?

Ich hatte Angst vor Dieben. In einer Gruppe kann man sich gegenseitig helfen. Ich hatte zum Beispiel Probleme mit meinen Füßen, weil ich so weite Strecken auf dem Asphalt gegangen bin. Da hat mir jemand an der Grenze mit Medikamenten geholfen. Ich habe dann wieder jemanden von meiner Wasserflasche zu trinken gegeben. Es ist, wie wenn man mit einer Familie reist. Innerhalb des Landes ist es dann aber wieder besser, wenn man allein oder in einer kleinen Gruppe weitergeht, weil man dann auch weniger auffällt. Man entkommt so der Polizei, Verbrechern oder den Medien.

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Asyl in Österreich: aktuelle Zahlen.
Grafik: APA

Nicht heute.

Nein, heute nicht. Da mache ich eine Ausnahme. (lacht)

Was vermissen Sie, wenn Sie an Pakistan denken?

Am meisten vermisse ich, mit meiner Familie, mit meiner Mutter zusammenzusitzen und mit ihnen zu reden. Ich vermisse auch das ruhige Leben in meinem Dorf. Hier sind alle immer unterwegs. Alles ist sehr hektisch. Zu Hause steht das Leben still.

Was sind Ihre Pläne für die Zukunft? Was ist Ihr größter Wunsch?

Ich bin jetzt 23 Jahre alt. Ich will in den nächsten fünf bis sechs Jahren heiraten. Ich will versuchen, so lange in Europa zu bleiben, bis ich genug gespart habe, um zurückzukommen, um mit einer Frau eine Familie gründen zu können. Das ist eigentlich alles.

Haben Sie in den vergangenen vier Monaten auch Frauen näher kennengelernt?

Nein. Ich bin Muslim, das ist mein Glaube. Ich schlafe nicht mit Frauen vor der Heirat.

Es wird nicht leicht sein, eine Frau aus der Distanz zu finden, oder?

Das ist sicher schwer. Es war für mich ja auch nicht einfach, hierherzukommen. Aber ich hatte keine andere Wahl. Ich vertraue meiner Mutter, dass sie mir eine gute Frau finden wird, wenn ich wieder zurückkomme, und mehr bieten kann als vor meiner Abreise. Dafür muss ich aber noch Geld verdienen.

Was würden Sie gerne arbeiten?

Ich habe in Griechenland bei einem Freund gearbeitet, der Blumenhändler war. Das habe ich gerne gemacht. Aber es ist mir grundsätzlich egal, welche Arbeit ich mache. Ich will nur nicht betteln, weil ich zwei kräftige Hände habe.

Wohin wollen Sie jetzt?

Ich habe einen Freund aus meiner Region in Pakistan, der in Deutschland lebt. Vergangene Nacht hat mir ein Flüchtling aus dem Senegal sein Handy geborgt, und ich konnte meinen Freund in Deutschland über Facebook erreichen. Dieser hat mir dann geantwortet, dass ich zu ihm kommen kann und er mir helfen wird. Das will ich jetzt versuchen.

Fesil kauft sich nach unserem Gespräch am Westbahnhof eine Zugfahrkarte nach Deutschland. Wir gehen noch in ein Kaffeehaus um die Ecke, wo er den Inhalt seines Rucksacks für ein Foto auf den Tisch leert. Danach fragt er in einem Hotel, ob er sich gegen Bezahlung duschen kann. Der freundliche Rezeptionist antwortet, dass er dafür eine ganze Nacht – also 76 Euro – verrechnen müsste. Der 23-Jährige lehnt dankend ab und geht zurück zum Westbahnhof. Dort trifft er auch drei andere Pakistani wieder, die mit demselben Zug Richtung Deutschland weiterfahren. 136 Euro kostet das Ticket, es ist praktisch das letzte Geld, das Fesil zur Verfügung hat.
Foto: STANDARD/Rainer Schüller

(Rainer Schüller, 16.8.2015)