"Ich fürchte mich davor, festzustellen, nicht relevant genug für mich zu sein. Dass sich nichts bewegt und mich nichts bewegen wird": Ianina Ilitcheva.

Foto: Christian Fischer

In den 1970ern machte kurzzeitig ein sonderbares Objekt namens Psycho-Tank Furore. Die Idee kam aus Kalifornien, woher sonst. Der Psycho-Tank war eine Art überdimensionale, verschließbare und mit körperwarmem Wasser gefüllte Badewanne. Wer sich eine Stunde oder länger in dem Ding kasernieren ließ, dem winkte nicht nur die wundersame Befreiung von Stress, Nervosität und ähnlichen Zivilisationsplagen, sondern womöglich auch eine spektakuläre Bewusstseinserweiterung – so zumindest versprachen es die professionellen Psycho-Tank-Hersteller. Die 1970er, das waren mächtig psychedelische Zeiten. Kein Wunder, dass sich damals auch John Lennon und Yoko Ono im Tank tummelten.

Erkenntniszugewinn durch Rückzug aus und Abschottung von der Welt: Dieses Bestreben gab es schon lange vor dem Psycho-Tank (Mystiker, Eremiten, Mönche, Nonnen etc.) und gibt es noch lange nach seiner Erfindung. Eine beliebte zeitgenössische Variante ist die Computerkarenz, mit der man dem Social-Media-Terror wenigstens temporär entkommen möchte: Der Süddeutsche-Journalist Alex Rühle hat dieses Experiment durchgeführt und 2010 in seinem Buch Ohne Netz dokumentiert. Es gibt aber auch andere Beweggründe, sich eine Zeitlang aus seinen zwischenmenschlichen Bindungen zu verabschieden.

Kontakt eingestellt

"Hallo, mein Name ist Ianina Ilitcheva, und ich stelle meine sozialen Interaktionen ein halbes Jahr lang ein. Folgende Regeln stelle ich auf: Der Kontakt zu meinen Freunden und Bekannten wird völlig eingestellt, lediglich unverzichtbare Termine werden wahrgenommen. Die Benutzung des Internets wird auf ein absolutes Minimum reduziert. Anrufe Kurznachrichten und E-Mails sind nicht erwünscht, Briefe jedoch sehr. Ich sage meinen Freunden, dass sie mich unangekündigt aufsuchen dürfen, wissend, dass die Entfernung zu meiner Wohnung ein natürliches Hindernis darstellen wird."

Ianina Ilitcheva, 1983 in Usbekistan geboren und seit 1991 in Österreich lebend, ist eine Wiener Künstlerin, die Malerei an der "Bildenden" und Sprachkunst an der "Angewandten" studiert hat. Der Antrieb, sich ihrem "Experiment der Selbstentziehung" auszusetzen, war Neugierde: Ist schöpferische Arbeit, fragte sie sich, nur dann möglich, wenn man ständig aus dem Ressourcenschatz seiner sozialen Bezüge schöpfen kann? Oder gibt es so etwas wie eine unabhängige innere Quelle, die den kreativen Prozess aufrechterhält, ohne dass sie selbst durch einen permanenten Informationsfluss von außen gespeist werden müsste?

Den Verlauf dieses Selbstversuchs hat Ilitcheva in ihrem außerordentlichen – und außerordentlich schön gestalteten – Buch 183 Tage festgehalten. Entsprechend ihrem Drang, sich in unterschiedlichen Medien auszudrücken, enthält 183 Tage nicht nur konventionellen gedruckten Text, sondern Faksimiles handschriftlicher Notizen auf Zetteln im Post-it-Format, von Zeichnungen mit Bleistift, Kugelschreiber und Tusche oder mit einer speziellen App aufgenommene Selfies, die die Autorin immer an ein und derselben Location, einem Garten im 22. Wiener Gemeindebezirk zeigen.

Die von beiden Seiten her betrachtbaren, auf einem speziellen Transparentpapier wiedergegebenen Fotografien wirken auf den Betrachter fast wie dreidimensionale Miniaturstatuen.

Sie dokumentieren, welche Veränderungen die Autorin und ihr Garten in diesem Halbjahreskreis durchlaufen haben, und rhythmisieren, als eine Art grafisches Interpunktionszeichen, den Fluss der vergehenden (und vergangenen) Zeit.

Schreckgespenst Einsamkeit

Die 183 Tage – mit kleinen Ausnahmen ist jedem einzelnen von ihnen ein eigenes, manchmal nur aus einem Post-it-Eintrag bestehendes Buchkapitel gewidmet – beginnen mit einem "reflexartigen Wunsch nach einem Blick auf die Twitter-Timeline" (so sehr haben uns die Social Media im Griff!), der Sorge, dass die Tomatenstauden im Garten umknicken könnten, und der Identifikation des größten persönlichen Schreckgespenstes, vor dem sich Ilitcheva fürchtet: der Einsamkeit. Aber auch andere Ängste tun sich auf: "Ich habe Angst davor, dass mir einfach nur langweilig sein wird, Dass sich nichts bewegt und mich nichts bewegen wird. Ich fürchte mich davor, festzustellen, nicht relevant genug für mich selbst zu sein. Und dass ich keine Kunst schaffen kann, aus dem, was in mir ist."

Diese Ängste erweisen sich als unbegründet: Nach dem Ergebnis der Arbeit betrachtet, stand der produktiven Auseinandersetzung mit der neuen Lebenssituation augenscheinlich kein unüberwindliches Hemmnis entgegen. Ilitchevas Herangehensweise ist dabei weniger die systematische analytische Durchdringung dessen, was sich in den 183 Tagen ihrer freiwilligen Selbstabschottung in ihrem Leben tut. Vielmehr gibt sie sich quick, ehrlich und ohne Vorbehalt der Abfolge der Augenblicke hin, sie verfertigt Momentaufnahmen ihrer Gedanken, Gefühle, Wahrnehmungsweisen und Projekte, die unter den Einwirkungen der langen Isolation ihre Eigendynamik entwickeln und sich unvorhergesehen verändern. Manche Beobachtungen sind unspektakulär, viele von großer poetischer Schönheit: "Das Nachtmeer ruft mich zu sich. (...) Alles kommt mir nah, eine tosende Schwärze liegt unmittelbar vor mir. Wie aus dem Nichts erscheinen weiße Bahnen aus Schaum, rollen auf mich zu, als hätte ich sie gerufen. Dort, wo sie herkommen, ist etwas."

Ein ursprünglich ins Auge gefasster Plan, jeden Tag mit einem gezeichneten Selbstporträt zu beginnen, verläuft bald einmal im Sand. Die Sinne reagieren auf die neue Situation: "Die Augen beginnen schlechter in die Ferne zu sehen, doch besser auf kurze Distanz. Das Gehör ist um einiges präziser geworden. Es fällt mir leichter, Geräuschkulissen in Einzelteile zu zerpflücken. Selbst der Geruchssinn scheint mir empfindsamer zu sein. (...) Mein inneres Wissen rüstet meinen Körper und meinen Geist auf. Sicherheit, danach strebt alles. Unsicherheit ist der Triebmotor."

Schmerzliche Katastrophen

Völlige Sensibilisierung auf das Hier und Jetzt, ein quasi zenbuddhistisches Unterfangen: In Ilitchevas Buch scheint die Distanz zwischen Gedanken und Gefühlen und deren künstlerischer Umsetzung in Text oder Bild oft bis auf ein absolutes Minimum reduziert, was dem Leser dann das Gefühl vermittelt, den Bewegungen eines Innenlebens gleichsam in Echtzeit zu folgen (dieser Spontaneitätseindruck ist freilich nur ein Aspekt des Buches, weil andererseits evident ist, dass viele "unspontane" künstlerische Entscheidungen getroffen werden mussten, ehe es seine endgültige Gestalt annehmen konnte).

Im Lauf der 183 Tage wird die Autorin nicht nur mit den Trivialitäten des Alltagslebens konfrontiert, sondern auch mit schmerzlichen Katastrophen: erst dem Tod ihres geliebten Hundes, dann der Diagnose einer sehr ernsthaften Krankheit ("Noch traut sich nieman das K-Wort zu sagen. Noch versuche ich, dem K-Wort auszuweichen.") Diese dunklen Momente werden konterkariert durch den immer wieder aufblitzenden Humor Ilitchevas, wenn sie zum Beispiel im Bewusstsein weit größerer Bedrohungen dies als ihre größte Sorge namhaft macht: "Dass mir eine Möwe auf den Kopf scheißt". Ein weiterer gelungener Kunstgriff: Ilitcheva lässt ihre 183 Tage nicht in ein Resümee von Weisheitslehren münden, stattdessen gibt es ein paar Sprachblasen, die vielleicht ebenfalls dem Geist des Zen verpflichtet sein mögen: "hey hey", "ja...ich...ähm...", "huhu!"

Dass ein solch aufwendig produziertes Buch zu einem erschwinglichen Preis angeboten werden kann, ist mit ein Verdienst der R-&-D-Foundation von Ingrid und Christian Reder, die das Projekt finanziell unterstützt hat. Für die Leserinnen und Leser ist es eine Einladung, am Erleben einer eigenwilligen und hochsensiblen Künstlerin teilzuhaben. Und für die neue literarische Reihe des Verlags Kremayr und Scheriau ist 183 Tage ein gelungenes Debüt, das gespannt macht auf die Bücher und Dinge, die da noch kommen werden. (Christoph Winder, Album, 14.8.2015)