Österreich gibt pro Jahr rund sechs Milliarden Euro für Behindertenhilfe aus. Die Antragstellung für die Betroffenen ist kompliziert.

Foto: Heribert Corn

Wie viele Gedanken verschwenden Sie daran: wann Sie aufstehen, mit wem? Was Sie essen, zu welcher Zeit? Wo Sie einkaufen? Wie Sie Ihren Tag verbringen? Wann Sie zu Bett gehen? Wo Sie wohnen und wie Sie leben?

Hätten Sie eine Behinderung, sagt Volker Schönwiese, Professor für Erziehungswissenschaften in Innsbruck und Vorstandsmitglied der Organisation Selbstbestimmt Leben Österreich, könnten Sie über diese Frage nicht selbst entscheiden – "Oder sagen wir so, der Staat macht einem das zumindest möglichst schwer."

Wie es Menschen, die nicht sehen oder hören, nicht sprechen oder gehen können oder in sonst irgendeiner Form in ihrem Alltag beeinträchtigt sind, in Österreich vergleichsweise geht, ist schwer zu sagen. Es gibt keine europaweiten Studien über die Standards der Behindertenhilfe. "

In einer Gegenüberstellung aller EU-Länder würde Österreich wohl nicht schlecht abschneiden, aber wenn man unsere Regelungen mit denen aus Skandinavien vergleicht – da ist noch einiges an Luft nach oben", ist der ehemalige Sozialminister und aktuelle Bundesbehindertenanwalt Erwin Buchinger überzeugt.

Behördliche Willkür

Darüber sind sich eigentlich die meisten Experten einig: Geht es um die finanzielle Unterstützung und Förderung von Menschen mit Behinderung, läuft in Österreich nicht alles falsch. Geld, zum Beispiel, sei eigentlich vorhanden. Die Gesamtausgaben für Behindertenhilfe von Bund und Ländern belaufen sich jährlich auf rund sechs Milliarden Euro und stellen damit den viertgrößten Posten im heimischen Sozialsystem dar.

Was aber alle beklagen: Wie Betroffene zu ihrer Unterstützung kommen, gleicht bürokratischer Schikane. Die Millionen versanden in den föderalistischen Wirren.

"Es mangelt an einer klaren Zuständigkeit. Hilfsmittel oder Therapien können vom Bund, vom Land, von den Gemeinden, den Kranken- oder Pensionsversicherungsträgern gefördert werden oder auch von mehreren Anlaufstellen in Kombination. Da blickt niemand wirklich durch", sagt Buchinger, dessen Anwaltschaft selbst Teil des Sozialministeriums ist. Darüber hinaus gebe es gravierende Unterschiede zwischen den Bundesländern, was in welchem Ausmaß bewilligt wird und was nicht.

Sehr viele Anträge

Ein behinderter Jugendlicher, der weder sprechen noch hören kann, müsse etwa sechs Anträge stellen, um einen Sprachcomputer zu bekommen, erklärt Jürgen Holzinger von der Organisation Chronisch Krank. "Jeder wird verstehen, das ist ihm einfach nicht möglich."

Holzinger, dessen Verein Menschen bei der Antragsstellung unterstützt, kennt viele Beispiele für die Problematik. Er muss nur von seinen vergangenen Arbeitstagen berichten, um sie verständlich zu machen: Da wandte sich eine Frau mit schwerer körperlicher Behinderung an ihn, der unrechtmäßig ein Kuraufenthalt nicht bewilligt wurde; eine Familie, Vater geistig behindert, ein Kind im Rollstuhl, habe Geld aus dem genau für solche Fälle eingerichteten Notfallfonds gebraucht und nicht bekommen.

"Selbst, wenn sich Betroffene an die richtigen Stellen wenden, werden sie häufig abgewimmelt – in der Hoffnung, dass die sowieso keinen Widerstand leisten. Wenn wir dann als Verein den exakt gleichen Antrag noch einmal stellen, wird er plötzlich bewilligt. Es herrscht Willkür. Diese könnte nur durch einen Rechtsanspruch auf diese Leistungen beseitigt werden", sagt Holzinger.

Föderalismus-Problem

Die Notwenigkeit, die Situation zu verbessern, fordern nicht nur seit Jahren sämtliche Vereine, sie wurde auch von der Regierung erkannt. Eine zentrale Anlaufstelle für behinderte Menschen, die berät und dann den Papierkram erledigt, ist Teil des Koalitionsabkommens. Auf Anfrage, wie es um die Umsetzung steht, wird aus dem Sozialministerium ausgerichtet: "Daran wird gearbeitet." Hauptsächlich würden das aber die Länder mit den Sozialversicherungsträgern klären.

Das Förderchaos ist aber bei weitem nicht der einzige Kritikpunkt. Die UN-Behindertenrechtskonvention ist in Österreich seit dem Jahr 2008 in Kraft – umgesetzt wurde davon bis heute vieles noch nicht. Der Kern des völkerrechtlich verpflichtenden Vertrags ist leicht erklärt: Menschen mit Beeinträchtigungen müssen staatlich geschützt und gefördert werden. Wie jeder andere verdienen sie ein selbstbestimmtes Leben.

Buchinger ist überzeugt, einen wesentlichen Beitrag dazu würde der Ausbau der persönlichen Assistenz leisten – also des Systems, dass Menschen für jene Aufgaben des Alltags, die sie allein nicht bewältigen können, eine Person zur Seite gestellt wird, die sie unterstützt. Hilfe beim Zur-Arbeit-Fahren, Einkaufen, Putzen, Rechnungen-Einzahlen oder einfach dabei, ein Buch zu lesen.

Andere Länder zeigen es vor

In Österreich haben derzeit circa 400 Menschen einen persönlichen Assistenten am Arbeitsplatz und etwa tausend Behinderte einen Unterstützer im Privatleben. Dem gegenüber stehen rund 15.000 beeinträchtigte Frauen, Männer und Kinder, die in betreuten Heimen leben. Zum Vergleich: Im ähnlich einwohnerreichen Schweden werden etwa 10.000 Menschen von einem persönlichen Assistenten unterstützt.

"Gerade im Arbeitsleben könnten behinderte Menschen dadurch sogar zur Refinanzierung des Aufwands beitragen. Das wird in viel zu geringem Ausmaß ermöglicht", sagt Buchinger.

Der Wissenschafter Schönwiese, der selbst im Rollstuhl sitzt, fordert darüber hinaus eine Umverteilung der Gelder: "Derzeit läuft es so, dass die Einrichtungen der Behindertenhilfe mit der Politik ausverhandeln, was wie hoch finanziert wird. Dadurch entsteht ein sozialer Dienstleistungssektor, in dem es mehr um betriebliche Eigendynamiken geht als um den Bedarf der Betroffenen."

Staat als Dienstleister

Die Lösung wäre seiner Meinung nach eine Umkehr der Strukturen durch ein sogenanntes persönliches Budget für behinderte Menschen. "Jeder Betroffene ist Experte in eigener Sache."

In Schweden wurde das längst umgesetzt, in Belgien ist man gerade dabei. Die Idee: Man bekommt eine Art ausgebautes Pflegegeld, über das man selbst bestimmt und mit dem man von kontrollierten Einrichtungen Dienstleistungen bezieht. In Wien wurde bereits eine Pflegegeldergänzung eingeführt, die in diese Richtung geht.

Schönwiese sagt: "Betroffene nicht mehr zu entmündigen käme dem Staat nicht teurer als das derzeitige System. Es mangelt lediglich am politischen Reformwillen, ihnen einen persönlichen Lebensstil zu ermöglichen." (Katharina Mittelstaedt, Cure, 24.9.2015)