Am Wiener Nordwestbahnhof wurde für das Forschungsprojekt "Stop and Go" ein Atelier eingerichtet.

Foto: Corn

Zwischen den Paletten eines Getränkevertriebs und Großcontainern werden in einer Halle am Nordwestbahnhof künstlerische Arbeiten und Utensilien gelagert.

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Fotografien und Installationen sind im Atelier von Michael Hieslmair (links) und Michael Zinganel am Nordwestbahnhof zu sehen.

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Wien – Die Rampe ist leicht ansteigend, die Kurve scharf, aber zügig durchfahrbar. Die meisten, die diese Stelle passieren, sind in einem Ausnahmezustand: Wir befinden uns auf der Zufahrtsrampe für Rettungsautos des Wiener Allgemeinen Krankenhauses (AKH). Im letzten Stück der Kurve parkt an einem Geländer Fahrrad neben Fahrrad. Manche Räder sind von Sanitätern, die hier arbeiten. Andere von Verunglückten, die ihr Vehikel nicht am Unfallort zurücklassen wollten, erzählt der Architekt Michael Hieslmair.

Es ist nicht das erste Mal, dass er eine Gruppe von Menschen durch das AKH führt und ihnen zeigt, wie sich das Krankenhaus aus Perspektive eines Rettungsautos darstellt oder welche Wege ein Müllcontainer durch den Komplex nimmt. Gemeinsam mit dem Architekturtheoretiker Michael Zinganel erforscht Hieslmair in dem Projekt "Stop and Go. Nodes of Transformation and Transition", wie sich Akteure an transnationalen Knotenpunkten einrichten und so den sozialen Raum mitproduzieren. Dabei geht es nicht nur um die Güter, sondern auch um die Leute, die sie führen, und wie sie interagieren.

In dem Projekt, das an der Akademie für bildende Künste Wien angesiedelt ist und vom Wiener Wissenschafts- und Technologiefonds WWTF gefördert wird, bedienen sich Zinganel und Hieslmair Methoden der künstlerischen Forschung – dazu gehören Stadtspaziergänge ebenso wie Interviews und Forschungsreisen. Oder dass sie sich mit ihrem Atelier am Wiener Nordwestbahnhof bei einem Logistikunternehmen eingemietet haben. Ihre Fotografien, gezeichnete Karten von Routen und Texte stehen dort im Großlager zwischen den Paletten eines Getränkevertriebs und in Plastik gehüllten Zahnarztsesseln eines Medizinproduktverkäufers. "Embedded research" nennt Zinganel das, "wir assimilieren uns an die Umgebung".

Wenn man mit den beiden über das Gelände des Nordwestbahnhofs spaziert, merkt man, wie gut ihnen das hier gelungen ist. Sie wissen, wo die Kühlwägen zufahren und wie Güterzüge per Kran mit Containern beladen werden, wann der Haupteingang zugesperrt wird und wo die Hütte des Abendportiers ist. Ein Fahrer eines Lkws voller Kisten fragt Zinganel nach der Zulieferstelle eines Getränkevertriebs – so als wäre dieser auch ein Fernfahrer, der gerade etwas angeliefert hat.

Keine Schreibtischtäter

"Wir sind keine Schreibtischtäter, wie das unter klassischen Forschern üblich ist", sagt Zinganel. Zu ihren Rechercheformaten zählen auch organisierte Stadtspaziergänge – wie etwa durch das AKH. Der Spaziergang funktioniert in zwei Richtungen: Nicht nur dient er Zinganel und Hieslmair dazu, neues Wissen zu sammeln, sondern auch, bisherige Erkenntnisse weiterzugeben – in unzähligen kleinen Anekdoten.

Im Vorbeigehen am muslimischen Gebetsraum erzählt Hieslmair vom Businessmodell, das sich muslimische Bestattungsunternehmen unter anderem im AKH aufgebaut haben. Gemäß dem muslimischen Glauben müssen Leichen innerhalb von 24 Stunden am muslimischen Friedhof bestattet werden. Bei Menschen, die im Ausland gestorben sind und überstellt werden müssen, wird das zur logistischen Herausforderung. Eine Ausnahme gibt es für Leichen, die an sakralen Orten gelagert werden. Logistikunternehmen haben sich genau auf dieses Geschäft spezialisiert: Noch im AKH waschen sie die Leichen, salben sie ein, baren sie in einer Moschee auf und organisieren einen passenden Charterflug.

Am Weg über die Südstraße im Krankenhauskomplex stadteinwärts wird wiederum ein vollkommen anderer Aspekt augenscheinlich: das für damalige Verhältnisse avantgardistische Statement, den Haupteingang des AKHs stadtauswärts zu verlegen, Richtung Gürtel – zu einer Zeit, als es noch üblich war, Gebäude stets in Richtung eines zentralen Stadtkerns anzulegen.

Um die Knotenpunkte der Logistik zu erleben, müssen Zinganel und Hieslmair Wien allerdings immer wieder verlassen. "Wien hat erst sehr spät auf den Logistikboom der Region reagiert", sagt Hieslmair. So zieht es die beiden immer wieder in die Nachfolgestaaten des ehemaligen Ostblocks. Schon zu Sowjetzeiten galt der Beruf des Fernfahrers dort als prestigeträchtig – zählte dieser doch zu den wenigen, die sich zwischen Ost und West bewegen konnten.

Immer wieder kehren Zinganel und Hieslmair zum Beispiel an die Grenze zwischen Bulgarien und der Türkei zurück und beobachten den Baufortgang des Zauns entlang der neuen EU-Außengrenze. Aus Tallinn nehmen sie einen Trolley mit, von der Bauart, wie er von finnischen Alkoholtouristen verwendet wird: Ganze Familien würden dorthin anreisen – vom Kind bis zur Großmutter -, jeder mit einem Trolley voll Alkohol im Schlepptau, erzählt Hieslmair.

Bauarbeiter und Berufsbettler

Teil ihres Forschungsinventars ist ein gebraucht gekaufter Lieferbus, den sie einerseits als Präsentationsfläche für ihre künstlerischen Arbeiten nutzen, andererseits als Fortbewegungs- und Transportmittel. Auch der Trolley aus Tallinn wurde damit transportiert, nun steht er im Atelier am Nordwestbahnhof.

Doch nicht immer reisen Zinganel und Hieslmair mit ihrem eigenen Wagen, manchmal nehmen sie auch bewusst den öffentlichen Bus. Auf dem Weg vom Balkan nach Wien sitzen sie dort neben Krankenpflegern, Bauarbeitern und Berufsbettlern. Die Menschen erzählen ihnen dann, wie absurd das gewesen sei, damals zur Zeit des Balkankriegs: Am Wochenende verdienten Serben und Bosnier als Leiharbeiter Geld in Österreich – und arbeiteten friedlich nebeneinander auf Wiener Baustellen. Während der Woche standen sie wieder an der Front und führten gegeneinander Krieg.

So unterschiedlich die Wege sind, auf denen Zinganel und Hieslmair ihr Wissen generieren, so divers auch die Formate der Weitergabe: Publikationen, Ausstellungen, Spaziergänge, Gespräche. Zu den theoretischen Referenzen, auf die sie ihre Arbeit beziehen, zählen die Critical Mobility Studies und die Akteur-Netzwerk-Theorie, in der die Welt als netzwerkartig aufgebaut verstanden wird. Mensch und Maschine werden dabei als Elemente eines Netzwerks betrachtet, und die strikte Unterscheidung zwischen Natur und Technik wird dadurch aufgehoben.

Zinganel und Hieslmair distanzieren sich von einem klassischen Wissenschaftsverständnis, bei dem Forschungsergebnisse im besten Fall ausschließlich in Publikationen in hochgerankten Peer-Review-Journals Ausdruck finden. Sie arbeiten an einer Erweiterung der Formate zur Wissensvermittlung. Am Ende der Tour durch das AKH öffnet Hieslmair die Hinterklappe seines Busses, der in der Tiefgarage geparkt ist. Ein Bildschirm ist dort im Kofferraum installiert, auf dem er Rechercheergebnisse in Videoarbeiten zeigt. Zinganel dazu: "Wer ausschließlich in Peer-Review-Journals veröffentlicht, nimmt eine Engführung des Wissens in Kauf." (Tanja Traxler, 19.8.2015)