Nach neun Stunden im Spiel passiert mir ein Fehler, und einer meiner Schützlinge stirbt. Nicht irgendeiner, sondern sogar mein liebster. Genau jener Charakter, den ich am sympathischsten fand, muss mit dem Ausweg in Sichtweite ins Gras beißen. Erbost über meine Nachlässigkeit schlage ich auf die Couch, als könnte ich die Tragödie über eine Minidruckwelle ungeschehen machen. Doch es gibt kein Zurück, und das zu einem Zeitpunkt, als das Gesamtkonstrukt dieses Höllentrips bereits offengelegt ist und ich mich nur noch auf das Überleben konzentrieren hätte müssen.

Ein Schlüsselerlebnis, das "Until Dawn" für mich in diesem Moment über die Erwartungen hinauswachsen ließ. Anstatt die pure Freude am Voyeurismus zu zelebrieren, schaffen die Entwickler des britischen Studios Supermassive Games etwas, dass ich bei dessen Teen-Horrorfilm-Vorlagen so nur in sehr abgeschwächter Form erlebt habe: Charakterbindung. Mit einer nahtlosen Mischung aus cineastischer Erzählung, all dem genretypischen Nonsense und den Vorzügen der Interaktivität ist ein Videospiel entstanden, das einen mit dem Spaß am Gruseln und mit dem Bewusstsein, das Schicksal selbst beeinflussen zu können, nicht nur auf den Zehenspitzen hält, sondern auch immer wieder zurückkommen lässt.

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Bild: Until Dawn

Ein Haus im Wald

Als Videospiel-Hommage an bekannte Genrestreifen konzipiert, wurde eine Geschichte gesponnen, die alle vorstellbaren Klischeeregister zieht. Zehn Jugendliche feiern in den Winterferien in einem imposanten Landhaus mitten im Wald von Blackwood Pines das Erwachsenwerden, als die zwei Töchter der Besitzer auf mysteriöse Weise verschwinden.

Ein Jahr später lädt ihr zurückgelassener Bruder die Runde erneut ein, um mit dem tragischen Vorfall abzuschließen. Doch anstatt Frieden zu finden, geraten die acht Teenager in die Fänge eines Psychopathen.

"Until Dawn" nimmt sich wie eine Serie Zeit, in das Setting einzuführen, und versetzt einen abwechselnd in die Rolle jedes Protagonisten. In den gut zehn Stunden bis zum Sonnenaufgang gilt es, die Hintergründe aufzudecken und vor allem zu überleben, denn jeder der vier Männer und vier Frauen kann sterben.

Bild: Until Dawn
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Puppenspieler

In dem verschneiten Bilderbuchwald entfaltet sich die Geschichte nach dem Prinzip eines der jüngeren Story-Adventures wie "Heavy Rain" oder den Telltale-Spielen. Orte lassen sich frei erkunden, Hinweise und nützliche Gegenstände müssen gefunden werden, und Dialoge sowie die Handlung sind entscheidungsbasiert. Diese Entscheidungen haben mal im Kleinen, mal im Großen Einfluss auf die im Rahmen vorgegebene Erzählung, die Beziehungen zwischen den Charakteren und letztendlich auf den Ausgang des Horrortrips.

Die Autoren setzen dabei von der Zicke bis zum großspurigen Sportass bewusst auf Stereotype, um gleich zu Beginn Identifikationsmöglichkeiten zu schaffen und die Fronten aufzuzeigen. Feinfühlige Charakterentwicklung sieht anders aus, doch über die Wahl der Antworten in den Dialogen werden den Spielern die Werkzeuge in die Hände gelegt, diese Persönlichkeiten zu formen, für gute Stimmung zwischen Pärchen zu sorgen oder Konflikte anzustacheln. Seichte Scherze und ein Anflug von Erotik lassen keinen Zweifel daran, dass die Autoren als Fans des Popcorn-Entertainments sich nicht in die Abgründe traumatisierenderer Psychothriller begeben wollten. "Until Dawn" ist ein Spiel, das man auch als Nichtspieler lachend und kreischend gemeinsam auf der Couch genießen kann, während die Personen am Bildschirm durch blutverschmierte Gänge laufen.

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Links überleben, rechts sterben

Sobald der idyllische Winterausflug in den Albtraum abdriftet, gewinnen die (nicht nur) sprichwörtlichen Weggabelungen an Bedeutung. Um gegen den Killer seine Chancen zu erhöhen, sucht man die Schauplätze besser genau ab und sammelt auf diese Weise Tonbandaufzeichnungen, alte Schriften, Tagebucheintragungen oder Gegenstände, die einem später nützlich sein könnten. Anstatt jedoch jeden schaurigen Kellerwinkel, jede verborgene Lade und jedes Fuchsloch im Wald abgrasen zu müssen, kommen einem die Designer mit einem unauffälligen, aber effektiven, kontextbezogenen Interface entgegen. Wie man verschlossene Türen öffnet, zeigen einem aufleuchtende Symbole an, und wenn es etwas zu entdecken gibt, macht sich das durch einen kleinen Lichtpunkt bemerkbar. Rätselfreunde werden vergeblich nach der intellektuellen Herausforderung suchen, doch die Aufgaben passen sehr gut zur Handlung.

Geht es ans Eingemachte und versucht man etwa zu fliehen, sich zu verteidigen oder eine morsche Plattform zu überwinden, kommen Quicktime-Sequenzen zum Einsatz, die den steigenden Stressfaktor unterstreichen. Besonders fies: In Augenblicken der absoluten Anspannung verlangt es das Spiel, den Controller absolut ruhig zu halten, um vom Mörder nicht entdeckt zu werden. Eine gelungene Anwendung dieses nicht immer gern gesehenen Gameplay-Elements, die sich aus dem Zusammenhang ergibt, anstatt aufgesetzt zu wirken. Dem kommt zugute, dass die Übergänge zwischen Spiel und Erzählung nahtlos und ohne Ladezeiten erfolgen und damit keines der Elemente den Spielfluss unterbricht. Supermassive hat ganz offensichtlich viel von ähnlichen Konzepten wie "Heavy Rain" gelernt und spielerisch das bisher rundeste Story-Adventure abgeliefert.

Bild: Until Dawn
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Vom Grusel-Game zum Survival-Horror

Für die richtige Gruselstimmung bedient sich "Until Dawn" speziell zu Beginn gerne des einen oder anderen Jump-Scare zu viel, doch dem Spiel gelingt es, diese billigen Tricks mit einer dichten Atmosphäre und mystischen Wurzeln in ein mitreißenderes Gefühl der Bedrohung zu wandeln. Im Mondlicht und den langen Schatten der Bäume wirkt jede Spur im Schnee wie eine wichtige Fährte und jeder Hirsch wie eine Gefahr. Als hätte man ikonische Movie-Sets von Filmen wie "The Shining" direkt ins Spiel übertragen, dominieren eindrucksvolle Strukturen das Bild. Ein gigantischer Feuerturm hoch auf dem Berg, ein längst verlassenes, doch beleuchtetes Sanatorium in der Ferne, ein pechschwarzer Abstieg in eine alte Mine, der andauernde Schneesturm. Der Mantel der Dunkelheit hüllt die Weite der fotorealistischen bis filmreif überzeichneten Kulisse in ein klaustrophobisches Labyrinth.

Gleichzeitig ist den Protagonisten die Angst anzusehen. Wenn Freunde auf brutalste Weise ums Leben kommen, zerreißt das Nervenkostüm, und Schrecken bricht aus. Von realen Schauspielern und Schauspielerinnen wie Hayden Panettiere oder Peter Stormare (als mysteriöser Psychiater) werden die Akteure zumindest so weit zum Leben erweckt, dass man beginnt, an ihnen festzuhalten. Ganz frei von unbequem anzusehenden stillen Pausen und holprigen Überleitungen ist die Dramatik nicht, doch die Schöpfer haben gut daran getan, bei Animation und Mimik nicht an Produktionsqualitäten zu sparen.

Bild: Until Dawn
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Brutaler Abschied

Diese vom Terror geprägte Bilderbuchwelt schafft es, einen so weit hineinzuziehen, dass man stets wissen will, wie es weitergeht. Ein geschickter Serienaufbau inklusive Cliffhanger am Ende einer Episode und Videozusammenfassung vor dem nächsten Kapitel sowie die Verteilung auf mehrere Protagonisten vereinen die guten Eigenschaften eines Pageturners. Dass man selbst am Schicksal der Charaktere beteiligt ist, intensiviert das Erlebnis im Vergleich zu einem Film deutlich.

Diesem Gefühl zuträglich ist, dass man sich trotz eigenmächtiger Entscheidungen nicht in Sicherheit wiegen kann – selbst wenn man über weite Strecken keine Fehler macht. Denn wie man seine Helden verliert, ist zumindest im ersten Spieldurchgang recht schwer durchschaubar. Einmal gerät ein Charakter durch eine längere Verkettung falscher Entscheidungen ins Jenseits, ein anderes Mal reicht es schon, wenn man sich ein einziges Mal in einer Quicktime-Sequenz verdrückt. Das wird für den einen oder anderen frustrierend sein – zumal es keine Rücksetzpunkte gibt –, auf der anderen Seite erhöht diese nicht unrealistische Willkürlichkeit die Herzfrequenz und die Anspannung enorm.

Bild: Until Dawn
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Auf Wiedersehen

Abseits der einprägsamen Tode wirken sich die Entscheidungen weniger dramatisch auf die Entwicklung der Geschichte aus. Je nach Spielweise sieht man etwa Szenen, die andere nicht sehen, oder wird mit abscheulichen Bildern erschrocken, die bei einem anderen Spielern durch andere Elemente ersetzt werden – doch der Rahmen, in dem sich der Albtraum entfaltet, bleibt gleich. Dies ist aus narrativer Sicht gewiss verständlich, um Spieler nicht ins Leere laufen zu lassen. Allerdings hätte es der Erfahrung gutgetan, speziell beim Finale flexibler zu sein. Zumindest bei meinen drei Durchgängen lief es, wenngleich stets in anderer Konstellation, immer auf den gleichen, etwas überhastet abgehandelten Höhepunkt an ein und demselben Ort hinaus.

Wer das Schicksal nach dem ersten Durchgang erneut auf die Probe stellen möchte, kann liebenswerterweise danach einzelne Kapitel anwählen und direkt von dort weiterspielen. Um alle Jugendlichen zu retten, muss man also nicht zwangsweise von vorne anfangen. Abseits der Verlockung, neue Pfade einschlagen zu können, geben schöne Boni wie Making-of-Videos und Artworks oder bislang nicht gefundene Clues Anreiz, mehrmals zurückzukehren. Und Blackwood Pines ist definitiv ein abscheulich-schöner Ort, den man erneut besuchen möchte.

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Fazit

Mit einer abgedrehten Geschichte, Klischees ohne Ende und billigen Jump-Scares gibt sich "Until Dawn" sehr selbstsicher als ausgewachsene Hommage an populäre Teen-Horrorfilme. Wer diesem Genre nichts abgewinnen kann, wird auch spielend nicht den Reiz am seichten Gruseln verstehen. Doch für Shocker-Fans treibt Supermassives erste Hochglanzproduktion voyeuristische Genüsse auf die Spitze und bietet eine Erfahrung, bei der man mit den dem Tode geweihten Protagonisten stärker mitfiebern kann, als es bei den typischen Hollywood-Vorlagen möglich ist. Nicht jede Abzweigung dieses Konzepts führt bereits zu einem großartigen Moment, doch mit all seinen Höhen und Tiefen ist es ein Höllentrip, den man mit anderen teilen und besprechen möchte. Achtmal in die Hose gemacht und mit einem Grinsen im Gesicht. (Zsolt Wilhelm, 25.8.2015)

"Until Dawn" ist ab 18 Jahren exklusiv für PS4 erschienen. UVP: 69 Euro