Die Strände sind voll. Sie sind noch voller als früher, weil die Krim als Lieblingsziel der Odessiten und der halben Ukraine weggefallen ist und sich die Menschen an diesen heißen Sommertagen ans verbliebene Schwarze Meer drängen – vor allem auf die schmalen Sandstreifen im Süden der Stadt, die den unverdienten Ruf haben, besonders "glamourös" zu sein.

Auch in Odessa selbst quillt alles über, auf den Boulevards, in den Straßencafés und den überfüllten "Marschrutki", den klapprigen kleinen Stadtbussen. Auf der Potemkinschen Treppe stehen sich so viele fotografierende Touristen gegenseitig im Weg, dass man kaum hinunter- oder hinaufgehen kann.

Der entfernte Krieg

Aber ist nicht Krieg? Wird denn nicht ein paar hundert Kilometer entfernt und im selben, im eigenen Land gekämpft, getötet, zerstört?

Durch die Altstadt flanierend, würde man es zunächst nicht vermuten. Ich sehe vor allem eine Mischung aus Alltag und Ferienlaune, aus geschäftigem Treiben einer Millionenstadt und der Lust auf Unterhaltung, nicht viel anders als vielleicht in Triest oder Barcelona. Erst auf den zweiten Blick fallen Details auf.

Der neue Stolz der Familie: Kinder, die Krieg üben.
Foto: Michael Freund

Im Park am Rand des eleganten Prymorsky-Boulevards sitzen zwei junge Frauen, vor ihnen auf einem großen Tisch Kriegsgerät, eine zerschossene Wagentür und eine Plastikschachtel mit einem Schlitz für Spenden und der Aufschrift "Hilfe für unsere Bataillons".

Ein vielleicht zehnjähriger Knabe hat sich einen Helm aufgesetzt, eine Panzerfaust geschultert und lässt sich stolz von seiner Mutter fotografieren. Nebenan zeigt der ultranationalistische Rechte Sektor auf Stellwänden Farbfotos von Szenen, in denen erwachsene Männer mit eben solchen Geräten hantieren, aber in tödlichem Ernst. Alles ist in ukrainisches Blau-Gelb getaucht, an einer Hausmauer hängt dazu ein großes Plakat: "Der nichterklärte Krieg" – dies auf Russisch, sozusagen auf den Verursacher bezogen –, der Rest des Textes auf Ukrainisch.

Liberaler Geist

Anzeichen von ukrainischem Patriotismus und antirussischem Engagement finde ich auch an weiteren Stellen der Stadt – Rekrutierungsplakate mit heroischen Bildern; Fotos von getöteten Soldaten; an einer Straßenkreuzung eine Art kleiner Altar für einen Gefallenen; Plakate in den Straßenbahnen, die eine sonnige Odessiter Straßenszene am Richelieu-Denkmal zeigen, und ein ruiniertes Haus in Donezk, dazu die Überschrift "Separatismus bringt Instabilität und Zerstörung"; in der Buchmarkthalle an der Oleksandrivsky-Straße Posters, die für den Anführer den Rechten Sektors, Dmytro Jarosch, werben. Die ukrainische Sprache herrscht an Ämtern und in offiziellen Verlautbarungen.

Doch der Alltag liest sich anders und sieht anders aus. Jenseits der gegenwärtigen Spannungen (um es milde auszudrücken) gibt es einen liberaleren Geist, der von der Geschichte dieser Hafenstadt herrührt und den man auch als Gast ahnen kann.

Wie alle Hafenstädte war Odessa, "porto franco", immer offener als sein Hinterland, weltläufiger als die territorial denkenden Bürokraten und Strategen. Hier wurde bis zum Zweiten Weltkrieg in vier bis fünf Sprachen durcheinandergeredet; beim Russischen – der Sprache der Mehrheit der Einwohner – und Ukrainischen ist es heute noch so. Entgegen den Bemühungen von Chauvinisten, die ihr Gebiet "säubern" wollen, sind manche Straßen- und Hinweisschilder zweisprachig, Werbung, Geschäftsnamen, Verpackungen können so oder so kommunizieren. Kein Mensch hat ein Problem damit, wenn unsereins etwas auf Russisch fragt. Vielleicht ist das ein Rest der Hafenmentalität: dass nicht zählt, woher du kommst, sondern wohin du zu segeln bereit bist.

Auf dem eng gewordenen Strand von Odessa (links); die Potemkinschen Treppen (mittig); im Park (rechts) blüht das Leben.

Der Weg nach Europa

Heißt das aber auch, dass Brüssel und der Kreml gleich nah und gleich weit weg sind? Das ist eine andere Geschichte beziehungsweise ist jeder Odessiter bereit, seine eigene zu erzählen. Einig scheint sich die Mehrheit höchstens darin zu sein, dass eine Integration in den russischen politischen und Wirtschaftsraum keine gute Option ist. Es gibt zwar auch hier eine separatistische Bewegung – die Auseinandersetzungen im Mai 2014, die in einen schrecklichen Brand mit mehr als 40 Toten mündeten, bezeugen es (an der Stelle liegen noch einige Objekte des Gedenkens, das Gewerkschaftshaus selbst ist abgeriegelt und umzäunt). Doch alle, mit denen ich spreche, wünschen sich eine unabhängige Ukraine.

Am 2. Mai 2014 brannte das Gewerkschaftshaus, 48 Menschen starben bei den prorussischen Protesten. Hier wird ihrer gedacht.
Foto: Michael Freund

Ab hier gehen die Meinungen auseinander. Für Oksana Dowgopolowa, die an der Uni Philosophie unterrichtet, geht die "Transformation in einen demokratischen Staat" viel zu langsam vor sich. "Von 100 zu ändernden Gesetzen werden nur zwei geändert, der Rest ist Beharren, weil es einigen nützt." Die Elite, ergänzt Wladimir, ein Biologe, sei anders als in Polen nicht ausgewechselt worden. Darüber hinaus, meinen beide, habe man es gerade im Oblast Odessa, in der Region um die Stadt, mit einer komplizierten Gemengelage zu tun. Als Beispiel nennen sie die in Sowjetunion-Zeiten hier angesiedelten Russen, die dankbar für den fruchtbaren Boden waren und es heute noch sind. Andererseits haben die früher und auch in jüngster Zeit hierher geflohenen Krimtataren ganz andere Erinnerungen an die UdSSR und Gefühle für deren Nachfolger. Aus allen diesen Strömungen eine mehrheitsfähige nationale Politik zu machen, sei nicht einfach.

Nun nochmals die Frage: Und Europa? Immerhin sehe ich in der Stadt immer wieder Geschäfte und Reklame, die mit "EURO-" bzw. "EBPO-" als offenbar positiv besetztem Reiz argumentieren. Ach, Europa, seufzt Natascha, eine urlaubende Managerin. Sie denkt, dass weder die EU noch Russland Interesse an einer starken Ukraine hätten.

"Wir sind ein Pfand in einem Schachspiel, gut genug als Pufferstaat." Und schlecht verwaltet. Auch ihr Mann Oleg kann sich den Weg in die EU nur schwer vorstellen, zu groß seien die Hürden der Bürokratie und der Verwaltung, die das Leben zum Spießrutenlauf machen, von der politischen Kultur ganz zu schweigen.

Rotes Tuch Korruption

Damit kommt die Rede auf das Thema Nummer eins, die Korruption. Jaja, sie sei natürlich das große rote Tuch für alle, die sich das Ausmaß nicht vorstellen können, sagt Wladimir. Man dürfe nur eines nicht vergessen: "Dieser Staat ist auf Korruption gebaut!" Er meint nicht nur die Millionengeschäfte im großen Stil, ob legal beziehungsweise quasilegal – das Oligarchentum – oder illegal – die Mafia (wobei gerade jene von Odessa in einschlägigen Kreisen einen besonderen Ruf genießt). Wladimir meint auch die kleinen Gefälligkeiten und Kickbacks, die ein Auskommen überhaupt erst ermöglichen.

Europa als Hoffnung, die sich Odessa nur selten erlaubt.
Foto: Michael Freund

Denn das Leben scheint zwar erschwinglich. Eine Straßenbahnfahrt, egal wie lange, kostet 2 Hrywen, das sind umgerechnet acht Cent; und die allerteuersten Plätze in der Oper gibt’s um sechs Euro. Nur sollte man, wenn man umrechnet, auch das Einkommensniveau der Ukrainer bedenken. Valentina bekommt als Pensionistin umgerechnet 50 (fünfzig) Euro im Monat. Trotz Wohnbeihilfe, Gratisbenutzung des öffentlicher Verkehrs etc.: Würde sie nicht ein Zimmer vermieten, käme sie nicht über die Runden. Und, sagt Oksana, wenn die Polizisten, die kleinen Beamten, die Verkäufer sich nicht da und dort ein kleines, oft auch krummes Zubrot verschafften, könnten sie schlicht nicht überleben.

Ich sage, dass Bakschisch-Unsitten und gelegentliche Strafzettel ohne Anlass kein Wunder seien, wenn man von der wirklichen Korruption weiß. Das ist spätestens der Punkt, wo die Rede auf den Gouverneur des Oblast kommt, der seit 30. Mai dieses Jahres im Amt ist, auf den Expräsidenten von Georgien Micheil Saakaschwili (der einen Tag zuvor zum ukrainischen Bürger gemacht wurde).

Der zugereiste Gouverneur

In ihm sehen manche der Leute, mit denen ich rede, einen Hoffnungsschimmer. "Er kommt von außen," sagt Oleg, ein Musikstudent, "er muss sich nicht um Seilschaften kümmern. Und er hat schon einige Beamte gefeuert, deren Bestechlichkeit bekannt, aber unantastbar gewesen ist." Er sei zum Beispiel nicht nur im Konvoi zum Flugplatz unterwegs, sondern auch auf eigene Faust auf der Straße nach Wilkowo im Donaudelta, die in einem erbärmlichen Zustand ist – ich kann mich selber von Schlaglöchern

Das alte Odessa wirkt vernachlässigt und desolat.
Foto: Michael Freund

überzeugen, so groß, dass Jeeps sie im Schritttempo umfahren. Zurzeit soll er nach den Schuldigen an diesem Zustand fahnden.

Dass Saakaschwili von außen kommt, sei allerdings auch das Problem, meint der Mittelschullehrer Iwan. Die mafiösen Herrschaften im Hintergrund würden über ihn lachen, sagt er. "Stellen Sie sich vor, Ihr Präsident würde einen schwedischen Politiker ins Land holen, um mit der Korruption bei Ihnen aufzuräumen!"

Ich behalte für mich, dass das vielleicht gar keine schlechte Idee wäre, und frage nach den Chancen des neuen Gouverneurs. Eine verbindliche Prognose will niemand abgeben. Er gilt als Testfall. Wenn er etwas verändert, und sei es nur von Präsident Poroschenkos Gnaden, dann wäre das ein wichtiges Signal für den Rest des Landes.

Bauten als Brennspiegel

Odessa als Brennspiegel einer Gesellschaft im Umbruch? Unterwegs in der Stadt meine ich zu spüren, wie ihre Geschichte, ihre Brüche und ihre gegenwärtigen Spannungen sich fast handgreiflich im Straßenbild niederschlagen.

Charakterbild einer Stadt: Zwischen Ruinen und blank polierten Fenstern spiegeln sich neureiche Bauten.
Foto: Michael Freund

Da ist das alte Odessa, das sich seit seiner russischen Neugründung im frühen 19. Jahrhundert in kurzer Zeit zum wichtigen Hafen entwickelte – man erkennt die Patrizierhäuser, die großzügigen Anlagen, die ersten Boulevards, die Jugendstil-Fassaden. Allerdings wirken sie häufig vernachlässigt, desolat und wie notdürftig zusammengehalten. Ihnen machten die Bauten aus der sowjetischen Periode Konkurrenz, als abseits des Zentrums ganze Schlafstädte entstanden. Sie stellen die frühen Villen und Apartmenthäuser buchstäblich in den Schatten und wirken inzwischen ähnlich verstaubt und sanierungsbedürftig wie ihre Vorgänger, allerdings ohne deren Patina und Anspruch auf ästhetischen Mehrwert.

Dann kam der große Umbruch, das neue Geld, die Freiheit zu bauen, was und wo man will. Dabei sind neureiche Exzesse, Mischungen aus schlecht verstandener Postmoderne und Neobarock, herausgekommen. Giebelchen, Gitterchen, Türmchen und Ausbuchtungen formieren sich zu Wohnburgen, die über der Stadt und über den Stränden thronen ohne Rücksicht auf Geschichte oder auf gegenwärtigen Sinn. Ihnen zur Seite stehen die international üblichen Glaspaläste, "Biznes Tsentr" genannt und austauschbar. Zwischen ihnen ducken sich weiterhin die kleinen Wohnhäuser mit ihren verglasten Balkonen. Straßenhändler, Kioskbesitzer und fahrende Espressoverkäufer gehen davor ihren Geschäften nach.

Im Zentrum geht es geordneter und wohlhabender zu. Hier sehe ich sorgfältig restaurierte Hotels und adaptierte Stadtpalais. Die Gehsteige sind problemlos benutzbar, Straßencafés breiten sich aus, die Fußgängerzone floriert, westliche Prestigemarken allüberall. Neben den Marschrutki für das Volk gleiten die Bentleys für die "happy few" zum nächsten Termin. Ich sehe, wie in guter sowjetischer Tradition die Wege des zentrumsnahen Schewtschenko-Parks jeden Morgen gereinigt und die Mahnmale für den Großen Vaterländischen Krieg gepflegt werden. Und natürlich führt mich ein Weg auch zum Opernhaus mit der berühmten Akustik, das aussieht wie jeder bessere Kulturpalast der Monarchie – es wurde schließlich vom Büro Fellner & Helmer entworfen.

Zeitreise Odessa: oben das verfallende Erbe, unten die Sonnenseiten – Oper, Einkaufspassage, neuer Wohnturm, Büro- und Hotelbau im Pseudo-Jugendstil.
Foto: Michael Freund

Aber das Zentrum macht höchstens fünf Prozent der Stadt aus. Der Rest ist chaotischer, härter und für einen an Ordnung gewöhnten Mitteleuropäer nicht leicht zu packen. Gerade darin hat Odessa vielleicht seinen besonderen Reiz. Mit dem Rest des Landes teilen die Odessiten eine große, teilweise tragische historische Bürde, mit der sie gerade jetzt fertigwerden müssen. Sie haben wenig Geld, um ihre Stadt instand zu halten, geschweige denn auf Zack zu bringen; denn das Geld, das es gäbe, versickert (siehe oben). So wie es scheint, haben sie jedoch den Willen, allen zu zeigen, wie man unter widrigen Umständen überleben kann – ohne falsche Naivität, aber auch möglichst ohne den Fatalismus, der im Osten Europas eine lange Tradition hat. Die Odessiten: immer noch ein Volk der Seeleute und Händler?

Coda

Larissa, eine Sprachlehrerin, erzählt mir die neue, zynische Variante eines alten Witzes: "Die Patrioten demonstrieren und schwingen ihre Fahnen. Die vom Rechten Sektor demonstrieren und schwingen ihre Fahnen. Die Separatisten demonstrieren und schwingen auch ihre Fahnen. Und die Odessiten verkaufen allen die Fahnen." (Michael Freund, 2.9.2015)