Florence Müller führt durch die herrschaftlichen Räume der Dior-Villa und bleibt vor einer Schneiderpuppe mit ausladender Oberweite und Wespentaille stehen. Für die Modehistorikerin ist sie der Beweis für die Radikalität, mit der Christian Dior seine Vision von Mode verfolgte. Draußen vor der Villa blüht noch immer der Rosengarten, von dem aus man auf die Küste von Granville in der Normandie herunterschauen kann.
Hier wurde Diors Blick für Schönheit geschult. Die atemberaubende Umgebung seines Elternhauses war für den Couturier zeit seines Lebens eine Quelle der Inspiration. Heute befindet sich auf dem Anwesen ein Museum, das sich dem Leben seines ehemaligen Besitzers verschrieben hat und bis zum 1. November die Ausstellung "La Révolution du New Look" zeigt.
"Die Legende erzählt, dass Christian Dior eine Schneiderpuppe mit dem Hammer bearbeitet hat, um dem Fabrikanten zu zeigen, welche Form er brauchte: den Rücken leicht abgerundet, die Taille ganz schmal, die Hüften nach vorn gekippt und der Bauch ein bisschen hervorstehend", erzählt die Modeexpertin und Kuratorin der Ausstellung. Auf dieser Büste kreierte der Modeschöpfer das berühmte Bar-Ensemble, mit dem er 1947 Modegeschichte schrieb: ein extrem taillierter Blazer mit ausgestelltem Schößchen, der sogenannten Bar-Jacke, und einem schwarzen wadenlangen Plissee-Rock darunter.
"Die Bar-Jacke ist ein Manifest", schreibt die Modejournalistin Laurence Benaïm im begleitenden Katalog. Sie stand sinnbildlich für ein Versprechen auf einen Neuanfang. Doch nicht alle Menschen empfanden das so. Diors allererste Modenschau, die er am 12. Februar 1947 zeigte, löste Proteste aus. "Die Menschen litten unter Rationierung, hatten keine Holzkohle, um zu heizen, und es herrschte Eiseskälte, auch am Tag der Modenschau. Und dann kam diese Kollektion, die aus endlosen Metern von Stoff bestand." So kontrovers sie auch waren, die üppigen Formen von Christian Dior ließen Optimismus durchklingen und wurden von der Presse gefeiert. "Your dresses have such a new look", lobte Carmel Snow, Chefredakteurin von "Harper's Bazaar" am Ende der Show und gab der neuen Silhouette, die von da an die Mode bestimmte, ihren Namen.
In Abwandlungen findet sich die legendäre Silhouette bis heute in so gut wie jeder Dior-Kollektion. Auch in den Kollektionen von Raf Simons, dem aktuellen Chefdesigner. 2012 eröffnete der Belgier seine erste Couture-Show für Dior mit einem schwarzen Bar-Hosenanzug. (Estelle Marandon, Rondo, 28.8.2015)