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Die verbalen Anschläge auf Unbekannte im Netz und die realen Anschläge auf Flüchtlingsheime sind keine Form der Meinungsäußerung.

Foto: REUTERS/Dado Ruvic

Die erste Welle der Empörung über die Hasspostings, die medialen Fragen rund um die Rechtmäßigkeit der Entlassungen und der Ruf nach Medienkompetenz für Jugendliche haben etwas nachgelassen. Aber rund um die Flüchtlingsproblematik ist vieles innerhalb unserer Gesellschaft von großen weltanschaulichen Differenzen geprägt. Auch nach der Feststellung, dass zum Beispiel beim jugendlichen Hassposter kein strafrechtlich relevanter Tatbestand gegeben ist, bleibt die Frage: Wie findet unsere Gesellschaft einen sinnvollen Umgang mit Menschen, die durch Hass angetrieben verbale Gewalt als legitimes Mittel der Gefühlsäußerung sehen? Mit Menschen, ob Jugendliche oder Erwachsene, die glauben, "nur" ihre Meinung zu äußern, und nicht zwischen verbalem Angriff und Meinungsäußerung trennen?

Wenn Meinungen nicht überzeugen, wird die Debatte intensiviert, bis schließlich ein Krieg der Worte ausbricht. Von der tätlichen Gewalt ist das nicht mehr weit entfernt, und der Hass, der hinter diesen und vielen anderen Aussagen steckt, ist unabhängig vom Internet für unsere Gesellschaft eine Bedrohung. Die verbalen Anschläge auf Unbekannte im Netz und die realen Anschläge auf Flüchtlingsheime sind keine Form der Meinungsäußerung. Das sind Taten, die Hass und Angst entspringen. Der Ruf nach Medienkompetenz irritiert in diesem Zusammenhang auch, weil die grundlegende Frage nicht ist, was und wie ich im Internet poste, sondern wie ich mich Menschen gegenüber verhalte – verbal und im Handeln –, die ich nicht mag oder die nicht mein Verständnis der Welt teilen.

Verbale Grenzüberschreitungen

Der Ruf nach menschenwürdigem Umgang schlägt oft ins Gegenteil um, wenn es um Andersdenkende geht beziehungsweise um Menschen, die Grenzen anderer – etwa von Flüchtlingen – verbal überschritten haben. Da scheinen dann Verurteilung, Beschämung und Besserwisserei in Ordnung.

Zwei Muster prägen die Auseinandersetzung: Ausgrenzung und Überzeugenwollen. In Blogs und Postings wird sehr schnell ausgegrenzt und abgegrenzt und nach therapeutischer oder sozialpädagogischer Begleitung gerufen. Nach dem Motto: Es sollen sich bitte kompetente Fachleute darum kümmern (auch eine Form der Abgrenzung).

Ausgrenzung keine Lösung

Doch Ausgrenzung und Kontaktabbruch sind keine Lösung. Ich bin Psychologin und Family Counselor. Deshalb sehe ich diese Reaktionen in Zusammenhang mit einem Erziehungsmodell, das auf jedem Spielplatz beobachtet werden kann. Ein Modell, das auch unter "gewaltfrei" Erziehenden als Möglichkeit erscheint: das Modell der Ausgrenzung. Nach dem Motto: "Wenn du wieder brav bist, darfst du wieder zu mir", "Wenn du dich beruhigt hast, kannst wieder zum Mittagtisch", "Wenn du aufhörst rumzuzicken, unterhalte ich mich wieder mit dir!"

Übertragen auf die Kommentare im Netz: "Er hätte eine Strafe bekommen sollen, dann hätte er Zeit gehabt, über sein Leben und sein Handeln nachzudenken", "Es ist gerechtfertigt, dass der Hassposter auf die Straße gesetzt wird, dann lernt er vielleicht, dass das nicht in Ordnung ist." Oder, etwas subtiler: "Das ist nur ungerechtfertigte Angst, die muss man in den Griff bekommen", "Jetzt sei doch mal vernünftig – dann können wir reden!"

Kontaktabbruch macht noch wütender

Es ist nicht so, dass Kontaktabbruch zu Läuterung, Verständnis und mehr Empathiefähigkeit führt. Das lässt sich einfach an sich selbst beobachten. Wenn uns etwas emotional betrifft, wenn wir wütend sind, ärgerlich, irritiert oder aufgebracht, wollen wir, dass unsere Botschaft ankommt. Wir wollen gehört werden. Der Kontaktabbruch hingegen macht uns noch wütender. Das ist das erste destruktive Muster.

Wenn ich die Kommentare zu verschiedenen Flüchtlingsartikeln lese, sehe ich sehr viele Menschen, die großen Frust haben. Die den Eindruck haben, zu kurz zu kommen. Die sich in ihrem persönlichen Dilemma nicht ernstgenommen fühlen. Und auf der anderen Seite eine überhebliche Masse, die diesen Menschen sagt, dass das, was sie da von sich geben, Schwachsinn ist und ihre Themen und Sorgen im Vergleich zu denen der Flüchtlingen nichtig. Das verstärkt den Hass.

Auch Argumente lassen Hass nicht schwinden

Das führt zum zweiten Muster: Überzeugen der Überzeugten. Wir hoffen, durch sachliche, stichhaltige und vor allem überzeugende Argumente die anderen von unserer Weltsicht überzeugen zu können. Manchmal rütteln Daten, Zahlen und Fakten auf, aber unser Weltbild wirklich erschüttern tun sie selten. Das tun sie auch aus gutem Grund nicht, da unsere Überzeugungen und unsere Weltsicht, unsere Ängste und Sicherheiten viel tiefer verwurzelt und aus den Beziehungen und Interaktionen unseres bisherigen Lebens entstanden sind. Es wäre kaum sinnvoll, meine Weltsicht von jemandem, der mir nicht wohlgesinnt ist, hinterfragen zu lassen. Denn warum soll ich jemandem etwas glauben, der mir sagt, dass ich nicht "richtig ticke"?

Menschen entwickeln sich in Beziehung weiter

Der Ausweg aus diesem Dilemma sind Kontakt und die Anerkennung, dass Konflikte normal sind.

Kontakt, weil wir uns und unsere Überzeugungen nur durch Menschen hinterfragen lassen, bei denen wir spüren, dass ihnen etwas an uns liegt. Die sich für unsere Sorgen, Ängste und Nöte – auch die objektiv nicht zutreffenden – ehrlich interessieren. Menschen entwickeln sich in Beziehung weiter. Das trifft für Menschen aller Altersstufen zu. Das fordert uns heraus, mit unseren Mitmenschen in Kontakt zu treten. Aber das tun wir meist genau in diesen Situationen ungern, weil wir den Konflikt scheuen. Wir meiden die kontroversen Themen.

Harmonie als Illusion

Ein Mythos unserer Gesellschaft ist die Illusion der Harmonie. Sobald zwei Menschen enger miteinander zu tun haben, gibt es unterschiedliche Bedürfnisse, Wünsche, Ansichten oder Ängste. Konflikte zu diesen Bereichen sind normal. Konflikte sind eine Tatsache des Lebens und nicht ein vermeidbares Übel.

Unterschiedliche Meinungen und Ansichten sind Grundlage unserer Demokratie, sind die Basis für Entwicklung und Innovation, sind letztendlich die Basis unseres Wohlstandes. Ein Konflikt ist nicht das Problem, sondern der Anfang einer Lösung. Wir brauchen unterschiedliche Weltanschauungen, um weiterzukommen.

Konflikte suchen

Erst wenn wir diese Tatsache anerkennen, können wir eine konstruktive Konfliktkultur entwickeln. Eine Konfliktkultur, die den anderen in seiner Menschenwürde unangetastet lässt, aber Raum gibt für Auseinandersetzung, Diskrepanz, Widerspruch und gemeinsames Ringen um Lösung der Themen, die uns gemeinsam betreffen.

Wir dürfen jugendliche Hassposter nicht ignorieren, aber auch nicht den Fachleuten überlassen. Wir müssen Kontakt suchen, verstehen wollen, Anderssein akzeptieren (nicht die verletzenden Äußerungen!) und uns trauen, Konflikte zu entwickeln, aus denen alle als Gewinner hervorgehen. (Robin Menges, 27.8.2015)