Wien – Er ist ein dunkles Kapitel in der österreichischen Medizingeschichte der Nachkriegszeit: die möglichen Missstände in der Betreuung geistig behinderter Kinder und Jugendlicher im Pavillon 15 in Steinhof (heute Otto-Wagner-Spital) und in der Abteilung für entwicklungsgestörte Kinder am Neurologischen Krankenhaus am Rosenhügel, im Pavillon C.
Ein Forscherteam rund um Hemma Mayrhofer erforscht die Missbrauchsvorwürfe im Auftrag des Wiener Krankenanstaltenverbunds. Ein Zwischenbericht liegt vor, die endgültigen Ergebnisse sollen im Juni 2016 präsentiert werden. Es gibt enorm viele Unterlagen, der Untersuchungszeitraum erstreckt sich von den 1960er bis in die späten 1980er-Jahre.
"Detektivische Arbeit"
"Es sind fesselnde, berührende und zum Teil erschütternde Lebensgeschichten", die aus den Akten hervorgehen, erzählt Mayrhofer. Die Anzahl der Patienten ist weit höher als angenommen. Es ist eine "detektivische Arbeit", sagt die Wissenschafterin, denn in manchen Akten stehe nur die Diagnose, nichts aber über den Therapieverlauf.
Die Kinder und Jugendlichen hatten unterschiedliche Erkrankungen. Das Spektrum reicht von Kindern mit Lernschwierigkeiten, Sauerstoffmangel bei der Geburt, Hirnverletzungen nach Unfällen bis zu Opfern sozialer und emotionaler Vernachlässigung. Bis zu 500 Patienten wurden in Steinhof behandelt, die meisten waren aus Wien und langfristig – also bis zu acht Jahre – im Pavillon 15 untergebracht. Mayrhofer bezeichnet Steinhof als die "letzte Station" für die jungen Patienten.
Anders ist die Situation am Rosenhügel. Dort gab es etwa 100 Betten, die die meiste Zeit ausgelastet waren. Die Aufenthaltsdauer war unterschiedlich lang. Es gibt bis zu 2500 Krankenakten aus der Ära Rett. Andreas Rett war der Gründer und Leiter der Abteilung für entwicklungsgestörte Kinder. Der umstrittene Kinderarzt gilt als die zentrale Figur am Rosenhügel, inwieweit er den Alltag bestimmt hat, ist Gegenstand der Forschungsarbeit.
Der aktuelle Wissensstand lässt noch keine Schlüsse zu, ob es bei der Stationierung in den genannten psychiatrischen Einrichtungen um Wegsperren oder um damals übliche Behandlungsmethoden ging.
Für die Aufarbeitung werden Zeitzeugen-Interviews durchgeführt. Neun Betroffene wurden bisher befragt, 15 Angehörige und zahlreiche Pfleger, Therapeuten und Experten. In der abschließenden Projektphase erfolgt die Auswertung der Krankenakten und Interviews, einige Schicksale sollen im Endbericht anonymisiert veröffentlicht werden. (mte, 27.8.2015)