Vasco da Gama ist nicht zu Hause. Die Fensterläden des weiß getünchten Gebäudes am Altstadtrand von Sines an der Küste des Alentejo sind geschlossen. Schon vor vielen Jahren ist er ausgezogen aus dem Haus, in dem er zur Welt gekommen war. Die neuen Besitzer pflegen es gut und sind doch nicht oft da. An der Klingel steht kein Name, und aus dem Briefkastenschlitz quillt Werbung hervor. Irgendwer hat im ersten Stock eine Gedenktafel an die Fassade gemörtelt – schon 1898: "Hier wurde Vasco da Gama geboren", steht darauf. Wann das genau war, darüber streiten sich die Historiker. Die Geschichtsschreibung ist nicht ganz eindeutig – 1468 oder 1469. Ein Detail nur. Wichtiger ist: Aus dem Bub sollte der Entdecker des Seewegs nach Indien werden.

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Irgendwer hat eine Gedenktafel an die Fassade des Häuschens in Sines gemörtelt – schon 1898: "Hier wurde Vasco da Gama geboren", steht darauf. Wann das genau war, darüber streiten sich die Historiker.

In Sines an der portugiesischen Atlantikküste sind sie stolz auf den großen Sohn, haben ihm ein überlebensgroßes Denkmal neben dem Nordturm der Festung errichtet. Aber offensichtlich ist es nicht beeindruckend genug, um einen Mann für Sines einzunehmen, der in Lissabon ein Antiquitätengeschäft führt und etwas gegen die Geburtsstadt des berühmten Seefahrers hat. Sein Name: Vasco da Gama. Ebenfalls. Direkter Nachkomme in 17. Generation.

In Sines an der portugiesischen Atlantikküste sind sie stolz auf Vasco da Gama, haben ihm ein überlebensgroßes Denkmal neben dem Nordturm der Festung errichtet.
Foto: Anja Menzel

Lissabon ist zwei Stunden mit dem Auto von Sines entfernt. Ihn zieht es trotzdem nicht in die 13.000-Einwohner-Stadt mit dem Containerhafen und den Raffinerien: "Was soll ich da? Mich verbindet nichts mit diesem Ort", sagt Dom Vasco da Gama heute, rückt die dunkle Hornbrille in seinem schmalen Gesicht zurecht, zupft am Sakko, streicht über den hellen Trenchcoat und greift nach seinem Kaffee Galão auf dem Tischchen. Der Mann, Jahrgang 1954, heißt wie die längste Brücke Europas, wie ein Krater auf dem Mond, ein Einkaufszentrum in Lissabon, wie Fußballvereine in Rio, Kapstadt und Goa. Nicht dass es eine Familientradition wäre, dass der älteste Sohn immer Vasco zu heißen habe. Die Eltern haben es einfach so entschieden.

Bekennende Monarchisten

Dom Vasco Xavier Teles da Gama und Graf von Cascais kann seine Abstammung in direkter Linie auf den Entdecker des Seewegs nach Indien zurückführen. Vorteile bringt es ihm nicht – nicht einmal in einer Polizeikontrolle. Er ist weder prominent, noch drängt es ihn zu Hause in Portugal in die Öffentlichkeit. Er ist zurückhaltend, vornehm, höflich, gebildet – und bekennender Monarchist. Wenn es nach ihm ginge, bekäme Portugal anstelle eines Staatspräsidenten wieder einen König. Etwas mehr als ein Viertel der Landsleute teilt diese Überzeugung. Es ist ein passiver Wunsch, eine Sehnsucht nach einstiger Größe. Aktiv unternehmen sie nichts. Dafür auf die Straße zu gehen passt nicht zum Ziel. Es ist zu wenig vornehm.

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Die Vasco-da-Gama-Statue schaut weg von der Stadt, hinaus auf die Weite des leeren Ozeans, der hinten am Horizont noch genauso mit dem Himmel verschmilzt wie vor mehr als einem halben Jahrtausend.

Das Seefahrer-Denkmal in Sines zeigt einen stämmigen Mann mit Vollbart, mit breiten Hüften, gerader Haltung und entschlossenem Blick: Er schaut weg von der Stadt, hinaus auf die Weite des leeren Ozeans, der hinten am Horizont noch genauso mit dem Himmel verschmilzt wie vor mehr als einem halben Jahrtausend. Es ist derselbe Blick wie vom Balkon des Geburtshauses aus, das keine 200 Meter entfernt ist. Und es ist eine Aussicht, die einen fast zwangsläufig nachdenklich gemacht haben muss: ob hinter all dem Wasser nicht noch etwas kommt, wenn man immer nur geradeaus segelte. Dieser Gedanken wird den jungen Vasco da Gama nicht mehr losgelassen haben.

Kein Cortez oder Pizarro

All der Tatendrang, der daraus resultierte, hat ihm das Denkmal bei der Burg beschert. Und den Ruhm, neben Columbus und Magellan zu den großen Entdeckern gehört zu haben – nicht zu den Eroberern, den Schlächtern, die ihnen nachfolgen sollten, nicht zu den Cortez’ und Pizarros, den Azteken- und Inka-Mördern in ihrer Gold-Gier. Da Gama suchte den Seeweg nach Indien nicht, um fremde Länder zu unterwerfen, sondern um das Monopol der Araber, der Perser und der Venezianer zu brechen, die den Handel kostbarer Stoffe und Gewürze über den Landweg beherrschten.

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Ein Museum für Vasco da Gama: Der Seefahrer zählte neben Columbus und Magellan zu den großen Entdeckern – nicht zu den Eroberern, den Schlächtern, die ihnen nachfolgen sollten.

Ob der Vasco da Gama aus Lissabon die Leidenschaften des großen Vorfahren teile? Ob er gerne segeln gehe? Er lächelt. "Ich habe kein Boot. Ich hatte auch nie eines. Es geht noch weiter: Ich bin nicht mal gerne auf dem Wasser unterwegs. Ich werde nämlich schnell seekrank." Nicht alles, scheint es, liegt in den Genen – oder es verwässert über die Generationen.

"Der Ritterorden von Santiago hat meinen Vorfahren damals aus Sines gejagt, er musste nach seinen Entdeckungsreisen nach Vidigueira umsiedeln. Unsere Familie hat nichts in Sines, keinen Bezug mehr zu dieser Stadt." Als sie dort die neu gepflasterte Fußgängerzone eingeweiht haben, in deren Oberfläche mit dunklen Steinen die Silhouetten von Naus, den breitbauchigen portugiesischen Karavellen aus dem 15. Jahrhundert, eingearbeitet sind, ist er auch nicht hingefahren.

Zweifel am Geburtshaus

Aber die Sache mit dem Geburtshaus? Beschäftigt ihn der Gedanke, einmal anzuläuten, nur um zu schauen, wer heute dort lebt? "Gar nicht", sagt er. "Ich bezweifele, dass es das Geburtshaus ist – die Tafel an der Wand hin oder her. Der Vater des Seefahrers lebte zum Zeitpunkt der Geburt in der Burg von Sines. Es spricht nicht das Geringste dafür, dass sein Sohn in einem Häuschen in 200 Metern Entfernung zur Welt gekommen ist." Er verzieht keine Miene, tippt nur ganz kurz an die Hornbrille.

Und was Sines tun kann, um endlich die Aufmerksamkeit der Familie zu erringen? Nichts. Man ignoriert sich gegenseitig. Es ist für den touristischen Erfolg nicht nötig. Es schadet nicht, wenn man einander übersieht – und einen trotzdem etwas verbindet. (Helge Sobik, 1.9.2015)