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Seit 70 Jahren genießen wir das Privileg des Friedens in Europa. Das Tanzstück "InDignity" hat am Dienstag in Alpbach Premiere.

Foto: APA / BARBARA GINDL

"I feel like inside a novel", sagte Hussein Khaddour im vergangenen Dezember, als wir im Café Central saßen. Er war für drei Wochen in Europa und ich hatte ihn für zwei Tage nach Wien eingeladen. An jenem Abend entstand die Idee für ein gemeinsames Tanzstück, in dem wir uns auf die Suche nach der Würde machen. Ich, nach 13 Jahren eben aus Washington nach Österreich heimgekehrte Tänzerin und Choreographin, und er, ein in Damaskus lebender Kollege.

Am Tag darauf brachte ich ihn zurück zum Flughafen. "Danke, dass du mich nach Wien eingeladen hast. Ich bin voller Energie und werde diese an die Menschen in Syrien weitergeben", sagte er zum Abschied. Selten hatte ich jemanden sein Schicksal mit so viel Würde tragen sehen. Ich versprach ihm an Ort und Stelle, dass wir uns bald wiedersehen würden. Und zwar zu den Probenarbeiten für unser Stück. Dann war er weg.

Warum bist du nicht in Europa geblieben?

Ich wusste, es würde nicht einfach werden, dieses Projekt auf die Beine zu stellen. Aber es stand in keiner Relation zu Husseins Leben in Damaskus, wo er vier Stunden am Tag Strom hat, schon zweimal beinahe von einer Bombe erwischt wurde und trotzdem an einem neuen Stück in der Oper von Damaskus arbeitete.

"Warum hast du nicht deinen Pass weggeschmissen und bist in Europa geblieben?", wird er immer wieder gefragt. Von Europäern, zu Hause in Damaskus, ja sogar von den Grenzwachen an der syrisch-libanesischen Grenze. Und immer wieder gibt er die gleiche Antwort: "Es gibt Syrer, die keine Wahl haben, die gehen müssen, um ihr Leben zu retten. Zu denen gehöre ich nicht. Ich bleibe so lange ich kann, denn ich will etwas für mein Land tun. In Europa hole ich mir Energie, damit ich zu Hause weitermachen kann."

Leben in Würde

Ich bat ihn für unsere Recherche, die Menschen um ihn herum zu befragen, was ihr schlimmstes Erlebnis der Entwürdigung war und was für sie am Wichtigsten für ein Leben in Würde ist. Selbst dies war, wie ich später erfuhr, ein gefährliches Unterfangen. Denn am Beginn der Revolution waren die Menschen nicht auf die Straßen gegangen, um Freiheit und Demokratie zu fordern, sondern ein Leben in Würde.

Am 18. April war ich wieder am Flughafen. Als ich Hussein sah, fiel mir ein Stein vom Herzen. Alles war gutgegangen. Wir konnten mit den Probenarbeiten beginnen. Wenige Stunden später die Nachricht, dass 850 Menschen im Mittelmeer ertrunken sind. Das war offenbar notwendig, um endlich etwas zu unternehmen. Eilig wurde ein Krisengipfel in Brüssel einberufen. Als wir an jenem Morgen im Festspielhaus St. Pölten mit den Proben begannen, konnte ich das Gefühl nicht loswerden, dass Europa, der Kontinent der Aufklärung, soeben seine Würde verloren hatte. Und ich, die sonst stolze Europäerin, mit ihm.

Keine Stimme

Wir arbeiteten zwei Wochen lang 16 Stunden am Tag. An Inspiration fehlte es nicht. Am 1. Mai brachte ich Hussein zurück zum Flughafen. "Pass gut auf dich auf", sagte ich zum Abschied. "Die Welt braucht dich." Dann war er wieder weg.

Seither ist kein Tag ohne Nachrichten über die Flüchtlingsproblematik vergangen. Und da sich mittlerweile ein paar hunderttausend syrische Flüchtlinge in Europa aufhalten, geht uns der Krieg jetzt endgültig alle an. Drei Millionen Syrer suchen derzeit Schutz im Libanon, der Türkei und Jordanien; 18 Millionen sind nach wie vor in Syrien. Über sie hört man dieser Tage fast nichts.

"Die große Mehrheit der Syrer möchte weder eine Diktatur noch Extremismus. Wir möchten das, was alle möchten: Freiheit und Würde", sagte die prominente Friedensaktivistin Salma Kahale im März. Daran wurde ich auch während der Probenarbeiten immer wieder erinnert. 70 Prozent der syrischen Zivilgesellschaft haben in den Medien kaum, und auf dem politischen Parkett gar keine Stimme. Um eine nachhaltige Lösung zu finden, muss sich das ändern.

Frieden als Privileg

Nun ist Hussein wieder für ein paar Wochen in Österreich. Am Dienstag hat unser Tanzstück "InDignity" in Alpbach Premiere. An dem Ort, wo vor genau 70 Jahren, nur wenige Monate nach Ende des Zweiten Weltkrieges, junge Menschen zum ersten Mal zusammenkamen, um zu überlegen, wie man unseren zerstörten Kontinent wieder aufbaut. Seit 70 Jahren genießen wir nun das Privileg des Friedens. Irgendwann wird auch dieser Krieg vorbei sein. Dann wird es viele junge, weltoffene, mutige Menschen wie Hussein brauchen, die die Region wieder aufbauen. Wir Europäer können jetzt einen wichtigen Beitrag leisten, indem wir sie bis dahin unterstützen. (Gloria Benedikt, 28.8.2015)

Gloria Benedikt