Die weltweite (und nicht nur europäische) Flüchtlingskrise bedeutet eine beispiellose Herausforderung für die EU. Als Erste hat die deutsche Kanzlerin Angela Merkel angedeutet, dass die Flüchtlingskrise länger dauern und schwieriger sein werde als die Stabilisierung des Euro und die Sanierung Griechenlands.

Angesichts der dramatischen Lage an den EU-Außengrenzen haben Heuchler und Jäger nach Sündenböcken von rechts und links Hochbetrieb. Zu Recht stellte der französische Politologe François Heisbourg kürzlich fest, die Migrationskrise trenne die Regierungen von den Wählern, die EU-Mitglieder voneinander und die EU von den Grundsätzen, auf denen sie gegründet wurde. Die Abwehr- und Abschreckungsmaßnahmen der Orbán-Regierung werden international scharf verurteilt, aber laut Umfragen von zwei Dritteln der Ungarn gebilligt. Auch in Polen lehnen fast 70 Prozent der Befragten die Aufnahme von Flüchtlingen ab.

Fast 45 Prozent aller Asylanträge werden in der Bundesrepublik eingereicht; man rechnet heuer mit 800.000 Asylwerbern. Trotzdem verhallt die deutsche (und österreichische) Forderung nach einer fairen Lastenverteilung ausnahmslos in allen postkommunistischen Staaten ungehört. Es handelt sich nicht um internationale Solidarität, geschweige denn um Dankbarkeit für die EU-Milliarden an Förderungen, die sie von den Nettozahlern erhalten, sondern schlicht um die Machtfrage für die nationalbewussten, politischen Klassen. Es ist fraglich, ob die von den eigenen Wählern zweifellos gerechtfertigte Forderung des österreichischen Kanzlers nach Verknüpfung der EU-Förderungen mit der Annahme von verpflichtenden Asylquoten in Bratislava und Riga, Prag und Budapest wirken wird.

Allerdings kann auch das "reiche" Europa die Türe nicht für alle öffnen, Zuwanderung ohne Kontrolle und Restriktionen, vor allem ohne Trennung zwischen Kriegsflüchtlingen und Wirtschaftsmigranten wäre auf lange Sicht ein politischer Selbstmord demokratischer Staaten infolge eines unvermeidlichen, ja gewaltigen Auftriebs für rechtspopulistische, fremdenfeindliche Parteien. Wer kann vergessen, dass selbst in Deutschland keine Woche vergeht, ohne dass es zu Anschlägen auf Asylwerberunterkünfte oder rassistisch motivierten Gewalttaten kommt.

Fast jeder zweite Asylantrag in Deutschland wurde heuer von Menschen aus Albanien, Kosovo, Serbien, also aus "sicheren Herkunftsländern" gestellt, freilich ohne Aussicht auf eine Aufnahme. Im Vorjahr hatten die deutschen Behörden zum Beispiel von 21.878 serbischen Staatsbürgern nur einen einzigen Menschen als Flüchtling nach der Genfer Konvention anerkannt.

Zehntausende Flüchtlinge in Griechenland und Italien können nicht einmal einen Asylantrag stellen; sie werden oft nicht einmal registriert. Nicht Schlepperbanden bedeuten die größte Gefahr für die Zukunft; nicht von der EU beschlossene Richtlinien für das Asylverfahren sind der Grund für die Krise. Die Renationalisierung, die Bereitschaft, mit allen Mitteln die Macht der Nationalstaaten ohne Rücksicht auf internationale Solidarität zu verteidigen, zerstört den Traum des grenzenlosen Europa.(Paul Lendvai, 31.8.2015)