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Wolfgang Lutz, Direktor des mittlerweile seit 40 Jahren bestehenden Vienna Institute of Demography, sieht in den aktuellen Geburtenraten kein großes Problem.

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STANDARD: Immer mehr Flüchtlinge drängen nach Europa. Wie ist der Blick des Demografen auf diese Migrationsbewegungen?

Wolfgang Lutz: Kurzfristige Entwicklungen wie Wirtschaftskrisen oder Kriege wie jener in Syrien kann man im Detail nicht voraussehen. Grundsätzlich ist ein unterschiedlicher sozioökonomischer und demografischer Entwicklungsstand ein Grund dafür, dass es Migrationsströme gibt. Das hat in erster Linie mit der Bildung der Bevölkerung zu tun, so die Hypothese, die wir oft belegen. Aus Bildung resultiert ein ausgeklügelteres Staatswesen und mit höherer Wahrscheinlichkeit eine Demokratie.

STANDARD: Wird der Klimawandel eine Massenflucht auslösen?

Lutz: Man setzt oft fälschlicherweise die Klimaprognosen von 2060 mit den gesellschaftlichen Fähigkeiten und Gesundheitssystemen von heute in Beziehung. Wir wissen mit großer Sicherheit, dass auch die Gesellschaft in der Zukunft anders in der Lage sein wird, mit Malaria oder anderen Gefahren umzugehen. Studien legen nahe, dass Menschen nahe an ihrem ursprünglichen Wohnort bleiben. Das Szenario, dass durch den Klimawandel eine Massenimmigration ausgelöst wird, ist nicht plausibel.

STANDARD: Ist Migration ein probates Mittel, um niedrige Geburtenraten auszugleichen?

Lutz: Man muss zunächst die Frage stellen, ob die hohe Lebenserwartung und die niedrigen Geburtenraten tatsächlich ein Problem sind. Das hängt von vielen Rahmenbedingungen ab, etwa ob sich die älteren Menschen noch einbringen können und wie produktiv die jüngere Generation ist. In Alpbach war viel die Rede von Robotern und Computern, die zunehmend die Arbeit der Menschen übernehmen. Wenn Produktivität und Automatisierung weiter voranschreiten, kann es aus wirtschaftlicher Sicht durchaus von Vorteil sein, weniger junge Leute zu haben. Migranten haben demografisch gesehen eine ähnliche Funktion wie eine höhere Geburtenrate. Wenn sie aus Syrien kommen, haben sie noch dazu eine gute Basisbildung im Gegensatz zu früheren Migrationswellen.

STANDARD: Österreich hat eine Geburtenrate von 1,4. Ab wann muss man sich Sorgen machen?

Lutz: In Europa gibt es diesbezüglich keinen Grund zur Panik. Wenn sie unter 1,0 fallen würde, wären die Folgen gravierend. Wir haben zur Hypothese der sogenannten Low Fertility Trap gearbeitet. Die Theorie besagt, dass der Kinderwunsch weniger von biologischen Umständen als vom Umfeld, in dem junge Menschen sozialisiert wurden, abhängig ist. Ein gutes Beispiel sehen wir in den Städten Chinas. Da gab es eine ganze Generation, die infolge der Einkindpolitik als Einzelkinder aufgewachsen ist. Neue Umfragen zeigen, dass inzwischen auch die als ideal angesehene Kinderzahl eins ist. Das ist ein Beispiel einer erlebten Realität, die zu einem Ideal erhoben wird. In Schanghai ist es inzwischen erlaubt, zwei Kinder zu haben, fast alle haben aber nur eines. Bei uns in Europa scheint die Zwei-Kind-Norm aber noch sehr stabil zu sein.

STANDARD: Nächste Woche wird nicht nur der 40. Geburtstag des Vienna Institute of Demography der Akademie der Wissenschaften gefeiert, es werden auch die neuen Räumlichkeiten an der WU eröffnet. Was bringt die universitäre Anbindung?

Lutz: Sie ist notwendig, um Studierende zu rekrutieren und Wissenschafter promovieren zu lassen. Auch in den USA und weltweit sind alle großen Forschungsinstitute mit den Universitäten verbandelt. Das ist uns auch mit dem Wittgenstein Centre gelungen. In den neuen Räumlichkeiten können zumindest die Gruppen der WU und der Akademie räumlich zusammengelegt und besser in das akademische Leben eingebunden werden.

STANDARD: Berücksichtigt die Politik die wissenschaftlichen Ergebnisse in ausreichendem Maß?

Lutz: Das beste Beispiel ist Schweden, wo die Regierung eine Wissenschaftskommission eingesetzt hat. Eine Pensionsformel wurde entwickelt, die auch eine steigende Lebenserwartung berücksichtigt und versucht, die Lasten gerecht aufzuteilen. Es gibt andere Länder, die Teilaspekte berücksichtigen, und dann gibt es Staaten, etwa in Osteuropa, die noch stark nationalistisch-reflexiv reagieren. Für Putin hat es Priorität, dass es nicht weniger Russen geben darf.

STANDARD: Wo liegt Österreich?

Lutz: Irgendwo in der Mitte. Die Leute in den Sozialversicherungen und im Sozialministerium nehmen die demografischen Realitäten jetzt deutlicher wahr als vor 30 Jahren. Wenn es darum geht, sie in Pensions- oder Arbeitsmarktreformen umzusetzen, werden Wissenschafter eingeladen, ihre Meinung zu äußern. Die Prozesse sind aber nicht so klar strukturiert, wie es in den nordischen Ländern der Fall ist. Dort sind Wissenschafter viel stärker in die tatsächlichen Entscheidungsmechanismen eingebunden. (Alois Pumhösel, 3.9.2015)