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Kandidaten für den Labour-Chefsessel (v. li.): Liz Kendall, Jeremy Corbyn, Andy Burnham und Yvette Cooper.

Foto: Reuters/Nicholls

Nachdem Labour-Chef Ed Miliband nach der schweren Niederlage bei der britischen Parlamentswahl seinen Rücktritt eingereicht hat, ist der Kampf um die Nachfolge entbrannt. Die Wahl des neuen Labour-Chefs findet am 12. September statt. Die Politologin Melanie Sully spricht im Interview mit dem STANDARD über Richtungskämpfe, die Suche nach einem neuen Politikstil und das Phänomen Jeremy Corbyn.

STANDARD: Der Parteichef wird heuer erstmals durch einen neuen Wahlmodus bestimmt. Es heißt, es könnten auch solche Personen abstimmen, die es mit Labour vielleicht nicht nur gut meinen.

Sully: Es stimmt, dass der Modus geändert wurde. Ed Miliband wollte die Bewegung öffnen. Die Vorwürfe gibt es tatsächlich. Und es ist nicht einfach, zu prüfen, ob die Leute sich alle wirklich für die Partei interessieren. Aber man muss sagen, dass sie vor allem von Konkurrenten Jeremy Corbyns kommen. Dass man auf die Art eine Bewegung aufbauen könnte, wie man sie neulich gesehen hat, als Tausende Corbyn in Leeds zugejubelt haben – das ist nicht realistisch.

STANDARD: Geht es bei der Wahl um Meinungen – oder ist eher die untypische Persönlichkeit entscheidend?

Sully: Zunächst gibt es die Überlegung, dass man zu viel von den Tories übernommen hat, dass Blairs New Labour nicht mehr funktioniert. Um die Persönlichkeit ging es anfangs nicht – Corbyn war fast nicht bekannt. Aber er hat einen anderen Stil. Persönliche Angriffe, wie man sie sonst oft sieht: So etwas macht er nicht. Es kommt auch gut an, dass ein Politiker anders mit Menschen umgeht.

STANDARD: Nach der Wahl hieß es in manchen Medien, Labour sei schon unter Miliband zu weit nach links gerückt. War das eine Fehleinschätzung?

Sully: Es geht es nicht nur um links und rechts, sondern auch um die Art der Politik. Anzusprechen, dass sich etwa viele keine Wohnung leisten können – das kann auch helfen. Aber die Unterhauswahlen sind 2020, also sehr weit weg. Zunächst muss Corbyn die Wahl zum Vorsitzenden gewinnen. Dann muss er sich eine Basis in der Partei aufbauen. Derzeit scheint er mehr Feinde in der Partei zu haben als außerhalb.

STANDARD: Droht der Partei die Spaltung?

Sully: Diese Gefahr gibt es sicher. Labour war nie so zentralisiert wie die Konservativen. Der Ton in der Partei ist derzeit sehr rau. Es gibt verschiedene Machtzentren: den Parteitag, den Parteivorstand, die Parlamentspartei, die Mitglieder, die Wahlkreise und die sehr wichtigen Gewerkschaften. Falls er gewählt wird, kommt der erste Test mit dem Parteitag – und der wird sich jedes Jahr wiederholen.

STANDARD: Erwarten Sie, dass er 2020 antreten wird? Er ist dann immerhin über 70.

Sully: Das steht in den Sternen. Premier David Cameron hat ja angekündigt, dass er nicht mehr kandidieren wird, es gäbe eine neue Situation. Aber ganz egal, wer antritt: Es wäre für Labour sehr schwierig, zu gewinnen. Man müsste viele Sitze zurückgewinnen.

STANDARD: Wenn Labour wieder mehr auf soziale Themen setzt – könnte man dann Sitze von der SNP zurückholen?

Sully: Könnte schon – aber gescheiter wäre ein Deal. Miliband hat das ja im Wahlkampf abgelehnt, weil der Abstand angeblich zu groß sei und er etwa Trident nicht abschaffen wollte. Das wäre jetzt weg.

STANDARD: Die Konkurrenten Corbys haben – so wie er selbst – vor der Wahl nicht als Schwergewichte gegolten. Hat Labour ein Personalproblem?

Sully: Da würde ich zustimmen. Die Leute waren bisher fast unbekannt. Bei den Konservativen gäbe es drei, vier Leute, die als Cameron-Nachfolger infrage kämen. Aber man sieht, wie schnell Persönlichkeiten aufgebaut werden können. Die SNP kam fast von null, Parteichefin Nicola Sturgeon wurde über Nacht aufgebaut.

STANDARD: Wie erklären Sie sich, dass Corbyn – ähnlich wie Bernie Sanders in den USA – als "Altlinker" so viele Junge anspricht?

Sully: Konkret will Corbyn etwa Studiengebühren abschaffen. Das zieht. Und viele sind vom neuen Stil begeistert, dass man ehrlich mit ihnen umgeht, Dinge mit ihnen persönlich bespricht, dass sie das Gefühl haben, dabei zu sein – nicht nur in sozialen Medien, sondern in Echtkontakten. (Manuel Escher, 3.9.2015)