"Der Hyperkritiker erkennt vor lauter Unterschiedsfixiertheit das Verbindende nicht mehr": Kritikforscher Thomas Edlinger.

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1985 erschien in der Edition Suhrkamp ein Buch von Jürgen Habermas, in dem sich der Philosoph und Soziologe mit Utopieverlust und Rückbau des Sozialstaates beschäftigte. Der Titel des Werks, Die neue Unübersichtlichkeit, wurde schnell zum geflügelten Wort. Offenbar hatte Habermas mit ihm einen Nerv und ein Kollektivgefühl getroffen.

30 Jahre später wird man risikolos konstatieren dürfen, dass sich das gesellschaftliche Unübersichtlichkeitsempfinden im Vergleich zu damals potenziert hat. Der brandgefährliche, aber auf eine pervertierte Art Orientierung stiftende Ost-West-Konflikt ist einem geopolitischen Wirrwarr gewichen, dessen Folgen auch Österreich hautnah spürt.

Die Political Correctness, 1985 noch in den Kinderschuhen, hat sich weit über ihr universitäres Geburtsmilieu hinaus als mächtiger (und mächtig umstrittener) Akteur etabliert. Vergangenen Dienstag brachte die U-Bahn-Zeitung Heute auf einer einzigen Seite gleich drei (!) Meldungen aus PC-Country (Obama benennt Mount McKinley auf die Ureinwohner-Bezeichnung "Denali" zurück; Protest gegen Winnie-Harlow-Fans, die sich schminken wie das hautkranke Model; Empörungsstürme wegen eines dänischen Spiels, bei dem "Sklaven" tetrisartig aufeinandergeschlichtet werden).

Nicht zuletzt hat das Internet die Unübersichtlichkeit großzügig vermehrt. Abseits seiner Meriten hat sich das Netz auch als ein Mega-Konfusionsorgan entpuppt, von dem alles zu haben ist: Shitstürme, wirtschaftliche Verwerfungen und ein nur niederschwellig abgesichertes Publikationsumfeld, in dem jedermann seine Missbefindlichkeiten schnurstracks in alle Welt hinausposaunen kann.

Mühselig und beladen

All diese Umbrüche rufen nach neuen kritischen Instrumentarien, und sie haben die Art und Weise, wie Kritik verstanden und praktiziert wird, einschneidend geprägt. Und zwar höchst widersprüchlich geprägt, so Thomas Edlinger, Wiener Radiomacher bei FM4, Autor und designierter Intendant des Donaufestivals in Krems. So hat etwa die PC-Bewegung der Welt eine Apotheose des Angerührtseins beschert, in der alles, was sich mühselig und beladen fühlt, in einem "opfernarzisstischen" Turnier Gegeneinander antritt. Diese Kritik hat eine Art volkstümlicher Gegenkritiker auf den Plan gerufen, die mit dem Schlachtruf "Das wird man wohl noch sagen dürfen" auf den Stammtisch klopfen und sich mit der Berufung auf einen diffusen Common Sense über Binnen-I-Verfechter und Negerbrothasser entrüsten. Das sind nur zwei von vielen Archetypen, die heute eine unübersichtlich ausdifferenzierte Kritiklandschaft besiedeln.

In seinem mit großer analytischer Finesse verfassten Buch Der wunde Punkt – Vom Unbehagen an der Kritik hat Edlinger versucht, den zeitgenössischen Manifestationen und Metamorphosen der Kritik auf die Schliche zu kommen. Das Resultat ist eine brillante Phänomenologie der Kritik in Zeiten einer fortgeschrittenen Unübersichtlichkeit, an der gemessen die Frontlinien der 1968er – hier die böse "Gesellschaft", da der "Ideologiekritiker", der nicht müde wird, deren "repressive" Tricks zu entlarven – geradezu glasklar transparent wirken.

Als Langzeitbeobachter von Popkultur, philosophisch-soziologischen Diskursen, hoher Kunst und Unterschichtenfernsehen vermag Edlinger Beispiele aus unterschiedlichsten Lebensbereichen herbeizuzitieren, an denen sich Beschaffenheit und Widersprüche der Kritik besonders gut veranschaulichen lassen. In feministischen Kreisen ist es etwa keineswegs mehr üblich, sich als gleichberechtigte Repräsentantinnen einer guten Sache zu verstehen.

Vielmehr fahnden vom politisch korrekten Rückenwind getragene Aktivistinnen auch nach innen hin nach Ungleichheiten: Wie kommt eine Woman of Color dazu, sich von einer heterosexuellen Weißen vertreten zu lassen? Wird hier nicht die "Race Card" zur Bevorzugung weißer Frauen gespielt? Selbstverständlich münden solche Verdächtigungen dann umgehend in einen Twitter-Hashtag (#WhiteFeminismIsAProblem), der in aller Regel einer weiteren Zerspragelung der Problemlage Vorschub leistet. "Hyperkritik" nennt Edlinger dieses Phänomen: "Diese kann vor lauter Unterschiedsfixiertheit nicht mehr das Verbindende erkennen und schwächt damit sich selbst."

Andere Kritikformen, die Edlinger herauspräpariert, sind die "dekorative Kritik", die "Kapitalismuskritik" und den "Miserabilismus", der sich, mit Ahnherren wie Schopenhauer oder Adorno, dem Gedanken der "Leidakkumulation" verpflichtet fühlt und im "auflagenfördernden Alarmismus der Massenmedien" einen unwahrscheinlichen Abkömmling gefunden hat. Auch die "Ideologiekritik" hat sich, obwohl in den 1970ern und 1980ern von der französischen Philosophenphalanx der Foucaults, Baudrillards, Lyotards etc. arg bedrängt, bis in die Gegenwart herauf gehalten und arbeitet sich mehr schlecht als recht an den verwirrend komplexen Gegebenheiten des Status quo ab.

All diese Kritikformen haben ihre eigenen Aporien: So hat etwa die Kapitalismuskritik für Edlinger den paradoxen Effekt, den Kapitalismus in seiner neoliberalen Variante erst recht gegen alle ernsthaften Umsturzversuche zu immunisieren. Die Ideologiekritik sieht sich außerstande, das, was Ideologie und Wirklichkeit unterscheidet, eindeutig voneinander zu trennen: Die eine lässt sich von der anderen ebenso wenig absondern "wie die Milch aus dem Milchkaffee". Damit reduziert sie sich auf die gleichbleibende Botschaft: "Ideologisch sind immer die anderen." Wie in einem postkritischen Leben aus diesen Sackgassen herauszukommen wäre, deutet der Autor am Ende eher an, als dass er es ausführt: Mehr beobachten und benennen als kritisieren und dekonstruieren könnte vielleicht ein Anfang sein.

Beim Großaufbau seines Buches hat sich Edlinger zu einem Kniff entschlossen, der dem Rezensenten als einer der wenigen kritikwürdigen Aspekte erscheint: Mehrfach verlässt der Autor den quasiobjektiven Duktus und tritt in Ich-Form in Erscheinung, um den Kontrast zwischen der Immensität seines Forschungsfeldes und den notwendigerweise begrenzten Möglichkeiten eines Einzelnen zu unterstreichen, dieses zu durchdringen. Dieses Vorgehen erlaubt es Edlinger zwar, interessante Details seiner eigenen intellektuellen Entwicklungsgeschichte oder persönliche Zweifel zu formulieren, angesichts der objektiven Stärke seiner Analyse wären diese subjektiven Einsprengsel jedoch nicht unbedingt nötig.

Der Wunde Punkt behandelt einen anspruchsvollen Stoff, aber Edlinger hat die Gabe, diesen in klare, nachvollziehbare Form zu gießen. Belesenheit und Up-to-date-ness des Autors kommen cool daher, und er schreibt originell, präzise und witzig. Sein Reiseführer durch die opaken Gemengelagen der Kritik beschert somit nicht nur Information, sondern auch immer wieder schöne Beispiele von fröhlich formulierter Wissenschaft: "Es gibt heute auch ein kritisches Bewusstsein von der Stange, und dieses verträgt sich gut mit einem Leben, das aus Einsichten keine Konsequenzen mehr zieht. (...) Kritik gilt als Ausweis von Progressivität, aber ist auch verstrickt in den Optimierungswahn der immerwährenden Arbeit an sich selbst. Kein Wunder, dass sie ununterbrochen herbeigewünscht, eingefordert und in unterschiedlichen Tonlagen produziert wird. Nur kein Reformstau!" (Christoph Winder, Album, 5.9.2015)