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Mensch sein in Österreich – anders als in Kurt Palms Text: Vergangenen Montag haben sich in Wien mehr als 20.000 Menschen mit Asylwerbern und Flüchtlingen solidarisiert.

Foto: APA/EPA/GEORG HOCHMUTH

Kurt Palm, geb. 1955, ist österreichischer Autor und Regisseur. Der Text ist ein Ausschnitt aus dem in Arbeit befindlichen Roman "Das Monster aus der Tiefe".

Foto: Michaela Mandel

Und Sie glauben wirklich, dass das eine gute Idee ist, wenn ich mich mit diesem – wie heißt er noch einmal?"

"Chimamanda Nkwongu."

"Wie?", fragte die Ministerin.

"Chimamanda Nkwongu", wiederholte ihr Pressereferent leicht genervt.

"Schreiben Sie mir den Namen auf, ich kann mir das alles nicht mehr merken. Ich soll mich also tatsächlich mit diesem Nigerianer fotografieren lassen?"

"Ja, Frau Minister, glauben Sie mir, das wird Ihnen viel Sympathie einbringen. Ich habe mit der Leiterin des Asylantenheims bereits alles besprochen. Sie wird die beiden Kinder des Nigerianers so herrichten, dass wir ein richtig schönes Foto zusammenbringen. Ich stelle mir so eine Art Familienfoto vor, wo Sie quasi die Mutterrolle übernehmen. Die Frau von diesem Nkwongu ist ja von Boko-Haram-Kämpfern entführt worden. Da werden selbst die Herzen der Kronen-Zeitung-Leser höher schlagen. Der Chefredakteur hat mir übrigens versprochen, dass das Foto morgen auf die Titelseite kommt. Und auch auf Facebook werden bei diesen Fotos viele Daumen nach oben zeigen. Was wollen Sie mehr?" "Na ja, aber warum ausgerechnet ein Nigerianer?"

In Nigeria als Dorflehrer

"Dieser Nkwongu ist der perfekte Vorzeige-Asylwerber. Er ist mit seinen beiden Kindern vor den Islamisten geflüchtet und war ein ganzes Jahr lang unterwegs, um im katholischen Österreich Schutz zu suchen. Außerdem hat er in Nigeria als Dorflehrer gearbeitet. Das ist keine so undurchsichtige Figur wie dieser Afghane, der kürzlich ermordet wurde."

Die Innenministerin hob abwehrend die Hände. "Dieser Mord darf nicht zur Sprache kommen. Ich habe keine Lust, mich da in die Nesseln zu setzen."

"Nein, nein", antwortete Magister Besendorfer. "Das ist ja auch der Grund, weshalb wir diesen Nkwongu als positives Beispiel präsentieren wollen."

"Aber was ist mit dem Dubliner Abkommen? Wieso ist dieser Nigerianer nicht schon längst nach Italien oder Spanien abgeschoben worden?"

"Aus seinem Akt geht hervor, dass er mit seinen Kindern nur in der Nacht unterwegs war und sie daher von niemandem gesehen werden konnten." Magister Besendorfer hielt kurz inne. "Sie sind ja schwarz, und in der Nacht -"

Die Ministerin schüttelte den Kopf. "Wenn ich so etwas sage, heißt es gleich wieder, die Breitfurtner-Brandstätter ist eine Rassistin." Der Pressereferent machte eine entschuldigende Geste. "Aber schrecken Sie sich bitte nicht, der Nigerianer ist nämlich wirklich schwarz. Und zwar pechschwarz. Ich sag's ja nur."

Die Innenministerin sah beim Fenster ihres Dienstwagens hinaus und war sich noch immer nicht sicher, ob sie die richtige Entscheidung getroffen hatte. Oed hieß die Ausfahrt, an der sie gerade vorbeifuhren, und sie fragte sich, weshalb solche Orte im Interesse des österreichischen Fremdenverkehrs nicht einfach umbenannt wurden. Außerdem hatte sie Wallungen. "Zeit für den Wechsel", ließ ihre Partei gerade überall plakatieren. So einen Slogan konnten sich auch nur Männer ausdenken.

Besendorfer reichte ihr den Zettel mit dem unaussprechlichen Namen. Warum konnte der Mann nicht einen normalen Namen haben? Wie zum Beispiel Dietlinde Breitfurtner-Brandstätter, das konnte sich jeder Depp merken. "Der Ablauf sieht also folgendermaßen aus", riss Besendorfer die Ministerin aus ihren Gedanken: "Zuerst werden Sie mit einigen Asylwerbern zusammenkommen, da sind die Asylwerber aber nur Staffage. Das eigentliche Treffen mit Nkwongu und seinen beiden Kindern findet anschließend im Beisein ausgewählter Medienvertreter in der Küche des Asylantenheims statt."

"In der Küche? Warum ausgerechnet in der Küche?" Der Ministerin schwante Übles. "Na ja, Nkwongu möchte unbedingt eine nigerianische Spezialität für Sie kochen. Das bringt noch ein paar zusätzliche Pluspunkte. Vergessen Sie nicht, dass die Leute ganz verrückt sind nach Koch-Events."

"Um Gottes willen, muss ich das Zeug auch essen?" Der Ministerin wurde jetzt schon schlecht, wenn sie daran dachte, dass sie die Leibspeise eines nigerianischen Asylwerbers essen musste. Und das womöglich auch noch vor laufender Kamera. Sie bevorzugte österreichische Hausmannskost und hielt nicht viel von kulinarischen Experimenten. Na gut, eine Pizza oder einen Döner Kebab aß sie schon ab und zu, aber das war's dann auch schon wieder. "Was kocht er denn, der -" Sie sah auf den Zettel. "Chi-ma-manda Nkwongu." "Ein traditionelles Eintopfgericht aus Nigeria. Es nennt sich Egusi Soup, ist aber keine Suppe im herkömmlichen Sinn."

Villa des Containerherstellers

"Aha." Die Ministerin warf ihrem Pressereferenten einen skeptischen Blick zu. "Und wann sind wir mit dem ganzen Tamtam dort fertig? Vergessen Sie nicht, dass ich um zwanzig Uhr einen wichtigen Termin habe." Besendorfer verzog das Gesicht. Dass seine Vorgesetzte in der Villa eines Containerherstellers zum Abendessen eingeladen war, während er mit dem Zug nach Wien zurückfahren musste, kränkte ihn zutiefst. "Das geht sich alles aus, keine Angst", murmelte er kurz angebunden.

"Anikulapo, komm her, und hilf mir beim Zwiebelschneiden." Chimamanda Nkwongu sah auf die alte Uhr, die an der vergilbten Tapetenwand hing. "In zwei Stunden müssen wir fertig sein."

Der Junge war gerade dabei, sein Hemd zuzuknöpfen, das er von der Leiterin des Asylantenheims bekommen hatte. Seine Schwester Ayesha stand vor der Fensterscheibe, die sie als Spiegel benutzte, und flocht sich Zöpfchen. Der Junge nickte und ging zum Tisch. Er musste sich auf die Zehenspitzen stellen, damit er das Schneidbrett überhaupt erreichen konnte. Wenn sie unter sich waren, unterhielt sich Chimamanda Nkwongu mit seinen Kindern auf Kanuri. Es war die Sprache der gleichnamigen Volksgruppe, der sie angehörten.

Das Mädchen soll lachen

Auf dem Tisch lagen die Zutaten für die Egusi Soup, die Nkwongu mit einem zufriedenen Lächeln betrachtete. Er hatte lange überlegt, durch welches Tier er die Buschratte ersetzen sollte, und war schließlich auf die Bisamratte gestoßen. Bei seinen illegalen Angelausflügen hatte er diese Tiere oft gesehen, und da er ein geübter Jäger war, war es für ihn ein Leichtes gewesen, diese Ratten zu erlegen. Und wenn man ihn fragte, welches Fleisch er für die Egusi Soup verwendete, würde er sagen: Ziegenfleisch, Rindfleisch und Geflügel. Aufgrund der vielen Zutaten wie Reis, Erbsen, Tomaten, Paprika, Mais und Yamswurzeln würde kein Mensch auf die Idee kommen, dass sich in der Egusi Soup auch das Fleisch von drei Bisamratten befand.

Als er die getrockneten Melonenkerne in den Topf leerte, begann Ayesha plötzlich zu weinen. Sie setzte sich auf den Boden und verbarg ihr Gesicht in den Händen. "Was ist denn los?", fragte Nkwongu, obwohl er die Antwort längst kannte. "Wegen Mama", schluchzte das Mädchen. "Sie hat ja immer die Melonenkerne in die Suppe getan." Nkwongu seufzte und hob das Mädchen auf. "Wo ist die Mama jetzt?", fragte Ayesha mit tränenerstickter Stimme. "Du hast gesagt, dass sie bald zu uns kommen wird."

Anikulapo stand am Herd und beobachtete aufmerksam die Szene. Nkwongus Herz schnürte sich zusammen, als er seine beiden Kinder ansah. "Sie ist noch zu Hause, aber ich verspreche euch, dass wir sie bald wieder sehen werden." "Wann?", fragte Ayesha trotzig. Noch bevor Nkwongu etwas sagen konnte, betrat die Leiterin des Asylantenheims die Küche. "Wie weit sind Sie mit den Vorbereitungen?" Nervös zupfte sie an ihrer frisch gebügelten Bluse und hoffte inständig, dass die Innenministerin keine Vegetarierin war. Aber das hätte ihr deren Pressereferent sicherlich gesagt. Chimamanda Nkwongu deutete auf den Topf. "Es alles gut", sagte er in seinem kaum verständlichen Deutsch.

Die Leiterin des Asylantenheims fand, dass die Suppe gar nicht so schlecht roch. Sie warf Ayesha einen besorgten Blick zu. "Das Mädchen soll lachen, i i wenn die Ministerin kommt, nicht weinen." "Nicht Problem", antwortete Nkwongu und strich seiner Tochter über die Zöpfe.

Nachdem sie wieder alleine waren, setzte sich Nkwongu an den Tisch. Mit dem Finger fuhr er die Wörter entlang, die ihm einer der Betreuer aufgeschrieben hatte, nachdem er ihn gebeten hatte, ein nigerianisches Sprichwort zu übersetzen: Allein essen ist wie allein sterben. Immer wieder las er die Wörter laut vor und versuchte, sie sich zu merken, aber es fiel ihm schwer. Zur Not würde er den Zettel zur Hand nehmen, wenn die Ministerin mit ihm und seinen Kindern Egusi Soup aß. Anikulapo und Ayesha standen neben ihm und sahen ihn erwartungsvoll an.

Magische Kraft des Flughundes

Er hatte seinem Sohn den Namen Anikulapo gegeben, weil er ein großer Bewunderer des nigerianischen Musikers Fela Anikulapo Kuti war. Wenn er daran dachte, wie er zu Hause in Zaghawa gemeinsam mit seiner Frau Boulama diese Musik gehört hatte, wurde er so traurig, dass er fast zu weinen begonnen hätte. Aber Nkwongu wusste, dass er stark sein musste. Er griff nach seinem Amulett, das an einem Lederband um seinen Hals hing, und dachte nach. In dem Beutel, den er wie seinen Augapfel hütete, befanden sich die Pfote einer Rotmeerkatze, getrocknete Bambara-Erdnüsse, ein Stück Schlangenhaut, Yam-Bohnen und zwei Krallen eines Flughundes. Nkwongu legte den Beutel auf den Tisch und holte die Krallen des Flughundes hervor. Er schloss die Augen und murmelte eine Beschwörungsformel.

Wenn es ihm gelänge, die magische Kraft des Flughundes auf sich zu übertragen, dann würde er womöglich in der Lage sein, jene bösen Geister zu vertreiben, die ihn und seine Kinder seit der Flucht aus ihrer Heimat so sehr quälten. Alles, was er tun musste, war, die Krallen des Flughundes in der Egusi Soup mitzukochen, um sich auf diese Weise die Kraft dieses geheimnisumwitterten Tieres einzuverleiben.

Was Nkwongu nicht wusste, war, dass sich auf den Krallen des Flughundes noch getrocknete Fleischreste befanden, in denen Millionen von Ebola-Viren nur darauf warteten, endlich zum Leben erweckt zu werden.

Als der Dienstwagen der Innenministerin auf den Parkplatz des Asylantenheims einbog, bereute Dietlinde Breitfurtner-Brandstätter endgültig, dass sie dem Rat ihres Pressereferenten gefolgt war. Auf dem Gehsteig standen ein paar Leute, die neben einem FPÖ-Plakat Flugblätter verteilten. Von den knapp zweihundert Asylwerbern, die in dem halb verfallenen Gasthof untergebracht waren, beobachteten etwa fünfzig die Szene.

Orthografische Besonderheiten

Einige von ihnen standen in Gruppen beisammen und versuchten, den Text des Flugblatts zu lesen. Der Bezirksparteiobmann der FPÖ, Tassilo Reichberger – der von Freunden auch gerne Heim-ins-Reich-Berger genannt wurde -, zeigte seinen fetten Bierbauch, auf dem der alte Leitspruch der SS "Unsere Ehre heißt Treue" eintätowiert war. Obwohl viele der Asylwerber einen Deutschkurs besucht hatten, taten sie sich beim Entziffern des Flugblatts schwer. Der Text wies nämlich einige orthografische Besonderheiten auf:

Wir haben zu viele Ausländer!

Auch wenn es viele nicht wahr haben wollen, manche Ausländer machen Probleme und anstatt sie hier ins Gefängnis zu stecken, sollte man sie abschieben!

Einmal wollten ein paar Einheimische in eine neu eröffnete disco gehen. An der Kassa haben sie noch kassiert und dann dachten sie sich schon, dass es hier so komisch riecht, nur Ausländer. Als sie eine Runde gingen, schrien schon die ersten: "Raus, ihr scheiß österreicher!"

Oder wo die Flüchtlinge überall einbrechen gehen. Die Chinesen grapschen die "Schlecker"-Verkäuferinnen an, oder das Waldcafe, wo die Flüchtlinge den ganzen Tag faul auf der Bierbank sitzen und nur durch die Luft schauen. Kriegen alles zugesteckt, Essen, kleidung, unterkunft ...

Aber man darf ja nichts sagen, weil es sind ja sooo arme Ausländer. Und in Wien, Frau Minister, ist es besonders schlimm. Am Naschmarkt, nur Inder! Man könnte noch mehr erzählen, z. b. von einer 48-jährigen Österreicherin, die einen Neger (darf man ja auch nicht mehr sagen) nur geheiratet hat, damit er hier bleiben kann. Die beiden haben dann ihren Nachbarn das Leben zur Hölle gemacht, nur weil die zwei Pitbulls hatten!

Wir haben einfach zu viele Ausländer.

Natürlich hatten sich die Fernsehleute und Fotografen so postiert, dass sie das Zusammentreffen der Innenministerin mit den Flugblattverteilern optimal ins Bild bekamen. Und die Asylwerber im Hintergrund gaben die perfekten Statisten ab.

"Und, was jetzt?", fragte Dietlinde Breitfurtner-Brandstätter.

Magister Besendorfer überlegte fieberhaft. "Am wichtigsten ist, dass Sie immer lächeln. Nehmen Sie ein Flugblatt zur Hand und sagen Sie, dass Sie es sich gerne durchlesen werden, sich jetzt aber um wichtigere Angelegenheiten kümmern müssen. Betonen Sie, dass es Ihnen um die Menschen geht und dass Sie nicht hergekommen sind, um ein Flugblatt zu lesen. Für Sie steht immer der Mensch im Mittelpunkt, auch wenn er ein Asylwerber ist."

"Ja, okay, klingt gar nicht so schlecht." Mit einem aufgesetzten Lächeln öffnete die Innenministerin die Autotür.

Dass in der Zwischenzeit die Egusi Soup zu köcheln begonnen hatte, konnte die Ministerin natürlich nicht wissen. (Kurt Palm, Album, 5.9.2015)