Filmfestspiele Venedig: Johnny Depp überrascht in "Black Mass" von Scott Cooper mit der Darstellung eines eiskalten Kriminellen.

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"Spotlight" handelt von aufsehenerregenden Fällen von sexuellem Missbrauch in der katholischen Kirche, aufgedeckt im Jahr 2000 vom "Boston Globe".

Foto: Filmfestival Venedig

Im Programm von Venedig sitzen die Kinofilme entspannt wie die letzten Saisongäste am Strand beisammen. Doch die Gemeinsamkeit trügt, am Ende des Tages werden sich viele davon in einer anderen Öffentlichkeit bewähren müssen. Cary Fukunagas "Beasts of No Nation", der sich das Drama eines afrikanischen Kindersoldaten reichlich naiv als blutiges Abenteuerspiel ausmalt, wird im Herbst bei Netflix ausgestrahlt. Der neue Film des Russen Alexander Sokurow, "Francofonia", sieht hingegen nur so aus, als wäre er für das Arte-Spätabendprogramm inszeniert: Der Essay um den Louvre und das Schicksal von Kunstschätzen in historisch bewegten Zeiten bleibt trotz übereinandergestapelter Bildschichten visuell unbeweglich.

Schließlich sind da noch die US-Filme, die am ersten Wochenende den größten Wirbel bereiten. Angeführt von Stars kommen sie auf den Lido, um nächste Woche weiter zum Festival in Toronto zu ziehen. An dieser Kick-off-Logik liegt es auch, dass einige von ihnen hier nur außer Konkurrenz zu sehen sind.

Der kompakteste davon ist Thomas McCarthys "Spotlight". Es geht um jene aufsehenerregenden Fälle von sexuellem Missbrauch in der katholischen Kirche, die Anfang 2000 durch die Tageszeitung "Boston Globe" aufgedeckt wurden. McCarthys kluges Drehbuch ist vollkommen auf die journalistische Recherche konzentriert – Spotlight ist der Name der berühmten investigativen Abteilung der Zeitung.

Unweigerlich denkt man bei diesem Film an Genreklassiker wie den Watergate-Film "All the President's Men". Doch die Spannung entsteht hier dadurch, dass der Fall offen daliegt, ihn aber lange niemand aufzugreifen wagte. Die Journalisten attackieren im Grunde das verlogene Selbstverständnis einer Stadt, in der die Macht der Kirche bis in Institutionen hineinreicht. Quellen wurden vertuscht, mögliche Zeugen mit Zahlungen zum Schweigen gebracht.

Gewieft und investigativ

McCarthy widersteht der Versuchung, daraus ein eindimensionales Heldenepos zu zimmern. Stattdessen setzt er auf klassisches Erzählkino, das parallelen Linien folgt, die in einem engagierten Team zusammenlaufen. Das großartige Cast verleiht den Figuren bis in Nebenrollen hinein individuelle Töne: Liev Schreiber ist der erste jüdische Chefredakteur des "Globe", der sich gegen die katholische Nomenklatura stellt; Michael Keaton der gewiefte Leiter des Investigativteams; Mark Ruffallo ein rasender Reporter, der auf der Straße den nötigen Nachdruck erzeugt.

Der "Boston Globe" hat auch in "Black Mass" einen kurzen rühmlichen Auftritt: US-Regisseur Scott Cooper erzählt vom irischstämmigen Mobster Whitey Bulger, der seine Karriere in Boston der versteckten Zusammenarbeit mit dem FBI verdankt. Das dünne Haar nach hinten gekämmt, die Augenfarbe verwaschen blau, die Stimme rau, bedrohlich, überrascht Johnny Depp hier mit der Darstellung eines eiskalten Kriminellen. Es dauert jedoch ein wenig, bis man sich an die Maske gewöhnt; bis die Gewalt dahinter richtig zum Vorschein kommt.

Die faszinierendere Auseinandersetzung mit Machismo ist dem Brasilianer Gabriel Mascaro mit "Neon Bull" geglückt. Der Film führt ins Feld der "Vaquejada", einer brachialen brasilianischen Rodeoform, bei der zwei Reiter einen Stier zu Fall bringen müssen. Die Breitwandbilder von Kameramann Diego Garcia, der zuletzt auch "Cemetery of Splendor" von Apichatpong Weerasethakul fotografiert hat, bleiben bewusst auf Distanz zu dem hormongesättigten Milieu, betonen dabei jedoch umso mehr die sinnlichen Seiten dieser Welt aus Schweiß, Gewalt und Sexualität. Widersprüche entstehen zwischen dem archaischen Dasein und moderneren Sehnsüchten der Figuren: So träumt der zentrale Cowboy (Juliano Cazarre) eigentlich davon, einmal Modeschöpfer zu sein. (Dominik Kamalzadeh aus Venedig, 4.9.2015)