Politische Verantwortung ist in Zeiten politischer Skandale ein inflationär gebrauchter Begriff. Im politischen Diskurs wird sie regelmäßig vom politischen Gegner eingefordert; in der öffentlichen Diskussion drückt der Ruf nach politischer Verantwortung den Unmut über die Folgen politischer Entscheidungen aus. Was ist sie aber, die politische Verantwortung? Was sind ihre Konsequenzen, und wer kann sie geltend machen? Ist politische Verantwortung mehr als ein Schlagwort, ist sie mehr als ein Trostpflaster für unzufriedene Bürger und Bürgerinnen? Ja, kann sie das überhaupt sein?

Wenn man versucht, Antworten auf diese Fragen zu finden, muss man zuerst klären, was Verantwortung heißt. Und dann muss man abgrenzen: politische Verantwortung von rechtlicher Verantwortung, von moralischer Verantwortung, von sozialer Verantwortung. Erst dann kann man sich der Frage zuwenden, welchen Stellenwert politische Verantwortung in unserem Gemeinwesen hat – und welchen sie haben sollte.

Und vor allem: an welchem Maßstab sie zu messen ist. Die Verfassung und überhaupt die Rechtsordnung kommen dafür nicht infrage, denn bei Verstößen dagegen greift die rechtliche Verantwortung.

Politische Verantwortung gilt für Handeln eines Politikers, das nicht durch Rechtsnormen vorgegeben ist. Zu fragen ist daher, ob und welche Regeln dafür gelten. Woran hat sich ein Politiker bei seinem politischen Handeln, bei politischen Entscheidungen zu orientieren? Ein Verhaltenskodex für Politikerinnen und Politiker, so er denn existiert, gibt darüber nur bedingt Auskunft. Denn bei der politischen Verantwortung geht es nicht um zu enge Kontakte zu Lobbyisten oder um Zusatzeinkünfte eines Politikers. Es geht darum, dass sich politisches Handeln oder eine politische Entscheidung im Nachhinein als falsch herausstellt.

Damit steht keineswegs schon fest, dass jemand dafür politisch verantwortlich ist. Denn Verhalten, ob politisches oder anderes, kann immer nur nach den zeitgleichen Umständen beurteilt werden und nie aus nachträglicher Sicht. Anhaltspunkte dafür, wie vorgegangen werden kann, gibt die Business Judgment Rule. Sie begrenzt die Haftung für unternehmerische Entscheidungen, indem sie darauf abstellt, ob die notwendigen Informationen beschafft und angemessen aufbereitet wurden, ob der Handelnde annehmen konnte, dass die Entscheidung dem Wohl des Unternehmens dient, und ob die Entscheidung frei von Interessenkonflikten zustande kam.

Diese Grundsätze können auch auf politische Entscheidungen übertragen werden. Denn auch von Politikern kann keine Garantie für den Erfolg verlangt werden. Sie sind aber dafür verantwortlich, dass die notwendigen Informationen für ihre Entscheidung beschafft und angemessen aufbereitet werden. Wesentlich ist auch, ob sie annehmen können, dass die Entscheidung dem Wohl der Allgemeinheit dient, und ob sie frei von Interessenkonflikten zustande kommt.

Wer prüft nun, ob politisches Handeln und vor allem politische Entscheidungen diesen Anforderungen entsprechen? Und wer verhängt welche Sanktionen, wenn dies nicht der Fall ist?

In erster Linie sollen es die Politiker selbst sein, die ihr Verhalten an diesen Maßstäben messen. Sie sollen auch die Konsequenzen ziehen, wenn sie sich bei kritischer Prüfung ihres Verhaltens eingestehen müssen, dass sie den Anforderungen nicht gerecht geworden sind. Dabei umfasst die Verantwortung nicht nur das, was sie persönlich gemacht oder nicht gemacht haben, sondern erstreckt sich auch auf Schäden und sonstige Fehlentwicklungen, zu denen es aufgrund von Fehlleistungen der ihnen unterstellten Organe staatlicher Institutionen gekommen ist. Ihre Verantwortung kann dazu führen, dass sie ihr Amt freiwillig aufgeben. Das Mindeste aber ist, dass sie "Rede und Antwort stehen" und sich den Bürgern und Bürgerinnen gegenüber zu rechtfertigen suchen. Das können und sollen auch diejenigen tun, die nicht mehr im Amt sind.

Unabhängig davon, ob Politiker bereit sind, ihre politische Verantwortung selbst wahrzunehmen, haben im Bereich der Vollziehung des Bundes der Nationalrat und eigens gebildete parlamentarische Untersuchungsausschüsse die Aufgabe, bedenkliche Sachverhalte aufzuklären und die wesentlichen Tatsachen festzustellen. Allfällige Konsequenzen aus solchen Feststellungen hat ebenfalls der Nationalrat zu ziehen. Sie können in einem Misstrauensvotum oder – bei Verstößen gegen die Bundesverfassung – in einer Ministeranklage mit möglichem Amtsverlust bestehen. Bei der Ministeranklage geht es allerdings nicht mehr um politische Verantwortung, sondern bereits um rechtliche Verantwortung.

Ministeranklage

Sowohl ein Misstrauensvotum als auch eine Ministeranklage setzen voraus, dass verantwortliche Politiker noch im Amt sind. Bedeutet das, dass politische Verantwortung leerläuft, sobald ein Politiker sein Amt aufgegeben hat? Ist sie auf die Amtszeit eines Politikers begrenzt? Und ist politische Verantwortung daher auch gar nicht das, worauf es den Bürgern in Wahrheit ankommt?

Was ist für die Bürger wichtig? Wie sollen Politiker handeln? Von welchen Erwägungen sollen sie sich dabei leiten lassen? Gelten für politische Entscheidungen andere Kriterien als etwa für unternehmerische Entscheidungen?

Ich glaube das nicht. Denn jede Entscheidung, in welchem Bereich und von wem immer sie auch getroffen wird, sollte auf der Analyse von Fakten beruhen. Die Analyse liefert die Grundlage, auf der die verschiedenen Handlungsalternativen erarbeitet werden können. Denn dass etwas "alternativlos" sei, und zwar im Sinne von "man braucht gar nicht weiter nachzudenken, denn es gibt keinen anderen Weg", kann man im Vorhinein – außer in ausgesprochenen Notfällen – regelmäßig nicht sagen.

Im Normalfall gibt es mehrere Möglichkeiten, und im Normalfall hat jede Alternative ihre Vorteile und ihre Nachteile. Die voraussichtlichen Folgen sind maßgebend dafür, wie die Alternativen zu bewerten sind. Die Bewertung wiederum bildet die Grundlage, auf der die Alternativen gegeneinander abzuwägen sind. Zu einer richtigen Entscheidung kann und wird die Abwägung der Alternativen nur führen, wenn dabei redlich vorgegangen wird. Redlich sich selbst gegenüber und redlich gegenüber denjenigen, die die Entscheidung betrifft. Redlich heißt, dass die wahren Erwägungen offengelegt werden.

Sachfremde Motive

Sich selbst gegenüber die wahren Erwägungen offenzulegen erhöht die Chance, dass eine richtige Entscheidung getroffen wird. Denn niemand ist davor gefeit, sich von sachfremden Motiven leiten zu lassen. Erst das Eingeständnis, dass es sachfremde Motive sein können, die eine Alternative attraktiver erscheinen lassen, macht eine Entscheidung möglich, die sachlich und fachlich begründet ist. Gegenüber den Betroffenen ist die Offenlegung der wahren Erwägungen eine Frage des Respekts und gleichzeitig eine Voraussetzung dafür, dass sie die Entscheidung auch akzeptieren.

Wie weit kann nun politische Verantwortung dazu beitragen, dass Politiker ihr Handeln und vor allem ihre Entscheidungen nach diesen Leitlinien ausrichten? Rechtliche Verantwortung steuert das Verhalten, weil rechtswidriges Verhalten mit Sanktionen belegt ist. Gleiches gilt für moralische Verantwortung, wenn auch in einem geringeren Maß. Hier sind es vor allem das eigene Gewissen und der Verlust an Ansehen im sozialen Umfeld, die sicherstellen können, dass ethische Standards eingehalten werden.

Anders als bei der rechtlichen Verantwortung gibt es bei der politischen Verantwortung keine rechtlichen Sanktionen. Wie bei der moralischen Verantwortung ist es in erster Linie die innere Einstellung der Politiker, auf die es ankommt. Politiker müssen ein Verantwortungsgefühl besitzen oder jedenfalls entwickeln; ihnen muss bewusst sein, dass sie mit ihrem Handeln, ihren Entscheidungen die Lebensverhältnisse der Bürger, ja selbst künftiger Generationen, gestalten und damit in das Leben von Menschen eingreifen. Gleichzeitig muss ihnen bewusst sein, dass ihnen Macht anvertraut ist, um im Interesse der Allgemeinheit wirken zu können, und die Macht nicht zur Erhöhung und Überhöhung der eigenen Person missbraucht werden darf.

Persönlichkeiten

Wie stark dieses Bewusstsein und damit das Verantwortungsgefühl sein und wie sehr es Handeln und Entscheidungen beeinflussen wird, hängt von der Persönlichkeit ab. Politiker sollte aber jedenfalls nur jemand sein, der ein ausgeprägtes Verantwortungsgefühl besitzt. Wie will und kann man das sicherstellen?

Ob jemand Verantwortungsgefühl besitzt, kann und wird nur jemand wahrnehmen, der bereit und in der Lage ist, Verhalten und Äußerungen kritisch zu hinterfragen. Das setzt wiederum die Bereitschaft und die Fähigkeit zum kritischen Denken voraus.

Kritisches Denken ist der Dreh- und Angelpunkt politischer Bildung. Es kann gelehrt und gelernt werden und sollte, wie in England, ein Unterrichtsfach an Schulen sein. Das Bestreben einzelner Lehrer, in ihrem Fach den Schülern kritisches Denken beizubringen, ist zwar von unbestreitbarem Wert, kann aber allein nicht genügen. Denn Ziel muss es sein, eine kritische Masse kritisch Denkender zu erreichen. Wenn das gelingt, dann haben wir eine faire Chance auf mehr Redlichkeit, Rationalität und damit auch Qualität in der Politik. (Irmgard Griss, 4.9.2015)