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Thorbjørn Jagland: "Wir befinden uns inmitten der Flüchtlingskrise."

Foto: REUTERS/Sergei Karpukhin

Standard: Kann Europa den Flüchtlingsstrom im Moment bewältigen und die Menschen integrieren?

Jagland: Absolut. Natürlich ist die kurze Zeit, in der das passiert und die Art, wie die Menschen Europa erreichen, eine Herausforderung. Aber erinnern wir uns an die Situation von 1956 als 200.000 Menschen binnen weniger Stunden Ungarn Richtung Österreich verlassen haben. In ein paar Wochen waren diese Flüchtlinge in Österreich aber auch in anderen europäischen Ländern untergebracht.

Es kann bewältigt werden. Es ist eine Frage des Willens, der Organisation und finanzieller Kraft. Der Kontinent ist reicher als je zuvor, deshalb sollte man auch mit dieser Situation umgehen können. Ich verstehe nicht, wie die Aufteilung der Flüchtlinge jetzt zu so einem großen Problem werden konnte.

Standard: Hat der fehlende Wille im Moment auch etwas damit zu tun, dass die Flüchtlinge nun aus einem anderen Kulturkreis als damals die Ungarn stammen?

Jagland: Diese Ängste gibt es seit langer Zeit in Europa. Aber da muss politische Führungsstärke ins Spiel kommen. Politiker dürfen nicht mit solchen Ängsten spielen, sondern müssen den Menschen die Situation erklären und sie informieren. Ausländer sind keine Gefahr für Europa. Wir brauchen sie. Mittelfristig gesehen, braucht Europa mehr Leute, weil unsere eigene Gesellschaft altert. Um den Wohlstand zu erhalten, brauchen wir mehr Menschen am Arbeitsmarkt. Die Angst vor Terrorismus kann ich verstehen aber nichtsdestotrotz muss man diese Situation nun schaffen.

Standard: Wie sollte etwa Ungarn mit den Flüchtlingen im Land umgehen?

Jagland: Ich erwarte mir, dass sich jede europäische Nation an ein Grundprinzip hält: In dem Moment, in dem eine Person ihren Fuß auf europäischen Boden setzt, steht sie unter dem Schutz der Europäischen Menschenrechtskonvention. Deshalb sollte jede Person nach diesem Prinzip und der Rechtsprechung des Gerichts in Straßburg behandelt werden.

Es gibt Grundsätze, wie mit diesen Menschen umgegangen werden soll. So haben sie etwa das Recht, dass ihr Fall angehört und bearbeitet wird. Ebenso gibt es Standards, wie Flüchtlinge in Gewahrsam oder Auffanglagern umgegangen werden soll: Zugang zu Nahrung, Unterkünfte und medizinischer Versorgung sind essentiell. Das ist die europäische Art, Menschen aufzunehmen. Das bedeutet nicht, dass jeder das Recht auf Asyl hat. Aber sie haben zumindest das Recht ihren Fall und ihren Asylantrag einzubringen.

Standard: Offensichtlich hält sich Ungarn nicht an diese Standards. Wie kann die Europäische Union reagieren, um auf die ungarische Regierung Druck auszuüben?

Jagland: Es gab bereits Reaktion auf diese spezielle Situation. Der Europarat hat die ungarische Regierung an ihre Verpflichtung im Sinne der Menschenrechtskonvention und die zuvor genannten Grundstandards erinnert. Ich glaube, dass das, was jetzt geschieht – der freie Weg nach Österreich und Deutschland – aufgrund des Drucks, der auf Ungarn ausgeübt wurde, geschehen ist.

Standard: Wie schätzen Sie die Reaktion von Österreich im Moment ein?

Jagland: Ich kann mich nicht beschweren, wie Österreich auf die Situation reagiert.

Standard: Gestern trafen Sie den UN-Hochkommissar für Flüchtlinge, António Guterres, in Genf. Worauf haben sich Europarat und UNHCR geeinigt?

Jagland: Wir waren uns einig, dass es einen klaren Bedarf an europäischer Solidarität gibt – wenn es um die Aufteilung von Flüchtlingen geht. Dass man viel bessere Aufnahmezentren an den Außengrenzen braucht – wenn es um die Effektivität der Registrierungen geht. Wer diese Zentren schlussendlich betreibt, obliegt den Schengen-Ländern. Aber ich kann mir vorstellen, dass man die auch gemeinsam betreiben kann. Außerdem brauchen wir solide Standards für diese Aufnahmezentren.

Und es braucht finanzielle Hilfen für die UNHCR-Einsätze vor Ort. Guterres hat mich gestern informiert, dass das von UNHCR-Regionalprogramm für Syrien nur zu 20 Prozent finanziert ist. Die europäischen Länder sollten vielmehr unterstützen, was die Vereinten Nationen in den Ländern rund um die Krisengebiete für Flüchtlinge leisten.

Standard: Freiwillige aus Europa helfen in Griechenland oder Italien. Menschen in Ungarn, Österreich oder Deutschland begrüßen Flüchtlinge und unterstützen sie. Ist die Gesellschaft weiter als ihre politischen Führer?

Jagland: Es ist ermutigend zu sehen, wie die Zivilgesellschaft auf die Flüchtlinge reagiert. Diese Mensch-zu-Mensch-Solidarität sollte sich auf eine Staaten-zu-Staaten-Solidarität übertragen. Die Politiker sollten jetzt davon profitieren und sie nutzen, um politische Führungskraft zu zeigen. Die Bilder, die uns im Moment erreichen, haben eine ähnliche Auswirkung wie die Bilder damals während des Balkankonflikts. Als die Bilder des zerbombten Sarajevo um die Welt gingen, änderten die Länder ihre passive Haltung hin zu einer Solidarität. Die öffentliche Meinung spielt im Moment eine starke und positive Rolle.

Standard: Sie waren Premierminister von Norwegen, das Millionen in die Hilfe vor Ort investiert und in der Region Projekte unterstützt. Trotzdem nimmt das Land selbst wenige Flüchtlinge auf. Rechtfertigt das eine Engagement das fehlende andere?

Jagland: Nein, das rechtfertigt nicht, dass man zögert, Flüchtlinge aufzunehmen. Ich habe den Norwegern gesagt: Wenn die Aufnahme von 8.000 Menschen so große politische Probleme in einem der reichsten Länder Europas auslöst, könnt ihr euch vorstellen, was 1,5 Millionen Menschen in der Türkei für eine Auswirkung haben. Wir sollten uns solidarisch zeigen. Mir kommt es vor, dass je reicher man wird, umso weniger ist man bereit, Solidarität zu zeigen. Aber das ändert sich nun. In Norwegen aber auch zum Beispiel in Großbritannien, wo Premier David Cameron seine Position ein wenig geändert hat. Die Dinge ändern sich zum Besseren.

Standard: Würden Sie der Europäischen Union noch einmal den Friedensnobelpreis verleihen?

Jagland: Ja, das war die absolut richtige Entscheidung. Aufgrund der Geschichte. Wir zeichnen niemand für seine künftigen Leistungen aus, sondern für bereits Geleistetes. Die Europäische Union hat so viel zur Versöhnung der Länder dieses Kontinents beigetragen. Ich glaube noch immer, dass es ohne die Europäische Union und ihrer Struktur und Institution noch schwerer wäre, diese Krise zu meistern.

Standard: Vor zwei Jahren haben sie im STANDARD-Interview gesagt, dass wir uns erst am Anfang einer Flüchtlingskrise befinden. Wo stehen wir nun?

Jagland: Wir befinden uns mittendrin und sehen kein Ende. Das liegt an der chaotischen Situation in Ländern wie Syrien, Libyen oder Nordafrika. Ich sehe kein Licht am Ende des Tunnels. Keiner kann vorhersehen, wann der Krieg in Syrien vorbei sein wird. Die Lösung in Libyen ist nicht absehbar. Das wird noch lange dauern. Man kann hoffen, dass der Iran-Deal von Wien zu mehr Kooperation etwa im Zusammenhang mit Syrien führen kann. Man darf aber nicht nur darauf hoffen, wir müssen diese Kooperation einfordern.

Die Vetomächte des UN-Sicherheitsrats haben eine große Verantwortung, was in diesen Regionen passiert ist aber auch aufgrund des Mandats, das sie von der Weltgemeinschaft bekommen haben. Sie sind für den Frieden und die Sicherheit der gesamten Welt verantwortlich. Das Problem ist aber, dass die Länder auf ihre eigenen Interessen schauen und das steht im Gegensatz zu ihrer Verantwortung. Das muss sich ändern, damit Krisen gelöst werden können. Ohne diesen gemeinsamen Standpunkt wird die weltweite Gewalt weitergehen. Und Flüchtlinge werden weiterhin nach Europa kommen. (Bianca Blei, 5.9.2015)