
Sprachen und ein Stadtviertel. In Jackson Heights, New York, werden Konflikte auf niederschwelligem Niveau bewältigt.
Pfiffe und Buhrufe in der Sala Grande, dem Premierensaal des Festivalpalasts. Die Unmutsäußerungen gelten nicht dem Film, wie in den vergangenen Tagen öfter, sondern dem Umstand, dass die englischen Untertitel nicht angezeigt werden. Als der Film schließlich abgebrochen wird, hüpft ein junger Mann auf die Bühne und nimmt die samtene Abdeckung von der Untertitelleiste ab. Das war der bisher ironischste Moment des Festivals.
Der Film, der dann noch einmal von vorn anfing, heißt Rabin – The Last Day vom israelischen Regisseur Amos Gitai. Es geht um die Ermordung des Premierministers Yitzhak Rabin im November 1995 durch einen Rechtsradikalen und um die Verschwörungstheorien, die um dieses Attentat seitdem in Umlauf sind. Schon zu Beginn spricht Rabins Weggefährte Shimon Peres in einem Interview davon, dass die Aufwiegelung der Bevölkerung den Weg für die Gewalt geebnet habe.
Später sieht man, in einem weiteren dokumentarischen Einschub, wie Benjamin Netanjahu vor aufgewühlten Demonstranten spricht, die unbehelligt zum Mord Rabins aufrufen. Gitais Film zeigt schon durch seine Dauer von zweieinhalb Stunden an, wie ernst ihm sein Thema ist. Im Stile einer Doku-Fiction breitet er ausschnitthaft, in den Zeitachsen verschoben und penibel auf Details bedacht die Vor- und Nachgeschichte dieses Gewaltakts auf.
Verzicht auf Spekulation
Die Schlampereien in der polizeilichen Absicherung von Rabins öffentlichem Auftritt, die von einer Kommission unter die Lupe genommen wurden, füllen einen wesentlichen Abschnitt des Films. Noch mehr interessiert sich Gitai für den ideologischen Nährboden, die Hetzpolitik von fundamentalistisch-orthodoxen Gruppierungen, die erst einen Täter wie Jigal Amir hervorbrachten.
Rabin – The Last Day ist sein Verzicht auf spekulative Momente hoch anzurechnen, auch wenn er es mit seiner akribischen Aufarbeitung fast ein wenig zu gut meint. Stellenweise wirkt der Film in seinen Verhörszenen allzu statisch, obgleich die sanft gleitende Kamera von Eric Gautier den Raum schön in Bewegung zu halten versteht. Gitai behauptet nie einen expliziten Zusammenhang zwischen der Fahrlässigkeit bei den Sicherheitsmaßnahmen und den immer ungestörteren Aufrufen zur Gewalt, weist aber entschieden auf die Erhärtung der israelischen Gesellschaft hin.
Pluralität als Selbstverständlichkeit
Schauplatzwechsel nach Jackson Heights, einem multiethnischen Stadtteil von Queens, New York, dem US-Dokumentarist Frederick Wiseman seinen jüngsten Film gewidmet hat. Mit 167 Sprachen ist dies eines der durchmischtesten Viertel der Welt, entsprechend vielseitig auch Ansichten und Initiativen, mit denen Bevölkerungsgruppen hier erfolgreich ihr Miteinander regulieren. Wiseman legt sein Augenmerk nicht nur auf Fragen nach kultureller Partizipation oder Maßnahmen gegen Gentrifizierung, ein wesentlicher Teil gilt auch Homosexuelleninitiativen, in denen sich das Projekt Community-Building noch einmal von einer anderen Seite stellt.
Jackson Heights entwirft ein immer wieder verblüffendes Bild einer Gesellschaft im Dialog über einen Lebensraum, in dem Pluralität als Selbstverständlichkeit erscheint. Krisen werden auf niederschwelligem Niveau bewältigt, vom Tattoo-Shop zur Koran-Schule führen hier nur ein paar Meter. Fast schon eine Gegenutopie zur Realität von Flüchtlingsströmen, die Österreich und Ungarn in den medialen Fokus rücken. (Dominik Kamalzadeh, 7.9.2015)