Erstaunliches spielt sich dieser Tage in Deutschland und Österreich, aber auch in anderen westeuropäischen Staaten in der Asylfrage ab. Die Stimmung kippt: Betroffenheit, Mitgefühl und Hilfsbereitschaft statt Ablehnung und Misstrauen sind vorherrschend. Die öffentliche Wahrnehmung von Asylwerbern ändert sich, sogar in den großen Boulevardblättern und auch in der Politik. Das schnelle und energische Handeln der deutschen und österreichischen Regierungen bezüglich der vorübergehenden Öffnung der Grenzen ohne Kontrolle für rund 20.000 Flüchtlinge wäre noch vor ein paar Wochen undenkbar gewesen.

Der Wandel ist in erster Linie der Macht der Bilder zuzuschreiben. Es sind die Fotos, die Gefühle wecken: von dem dreijährigen ertrunkenen Knaben aus Syrien, der an die türkische Küste gespült wurde, von dem Vater mit seiner Frau und seinem Kind, der sich auf die Gleise wirft und zwischen ungarischen Polizisten weint und schreit, oder den Asylsuchenden, die aus einem ungarischen Zug nach Deutschland gezerrt werden. Die Kameras der internationalen TV-Sender und die Fotos in den Zeitungen zeigten in der vergangenen Woche weltweit in erster Linie die erschütternden Zustände auf dem Budapester Ostbahnhof. Im Erstregistrierungslager in Röszke bei der serbisch-ungarischen Grenze in Südungarn und im kleinen Ort Bicske, wo sich die von den Behörden irregeführten Flüchtlinge weigerten, einen vollgepackten Regionalzug zum Transport in ein Asylwerberlager zu verlassen.

Angesichts des offensichtlichen Versagens der Behörden und des Krisenmanagements durch Chaos begaben sich dann am Freitag tausende Flüchtlinge von Budapest zu Fuß auf den langen Weg zur österreichischen Grenze. Es waren wohl die dramatischen TV-Berichte über die Menschen, die nichts mehr zu verlieren haben, die die Regierungen in Berlin und Wien wachgerüttelt haben.

Und die Stimmung in Ungarn selbst? Die Orbán-Regierung beschwert sich über die Doppelbödigkeit der handlungsunfähigen EU und ist verblüfft, dass der skandalöse Mangel an Empathie für die Menschen in Not, der sich in den Reden und Interviews Viktor Orbáns und seiner Diener bemerkbar macht, internationale Empörung ausgelöst hat. Die Regierung schütze durch ihre Haltung nicht nur Ungarn, sondern ganz Westeuropa vor den Massen fremdländischer Menschen, die unsere Länder überrollen und unsere Zivilisation bedrohen, heißt es. Eine klare Mehrheit der Ungarn scheint diese Haltung zu unterstützen. Der herausregende Literaturphilosoph Sándor Radnóti drückte in einer Titelgeschichte der linksliberalen Wochenzeitung Magyar Narancs die Schamgefühle der geistigen Elite aus: "Das Orbán-Regime verkörpert durch seine Unbarmherzigkeit und Grausamkeit das, was das Schlimmste in Europa ist." Es gibt aber auch in Ungarn eine engagierte Zivilgesellschaft. Im krassen Gegensatz zur offiziellen Heuchelei sind seit Wochen tausende freiwillige Helfer für die Flüchtlinge aktiv. (Paul Lendvai, 7.9.2015)